Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Schwarz: „Aber die Tür ist ja offen!“
Julius sah zu ihm hin. Der Mann hatte die Klinke zur Restaurieranstalt gedrückt und die Tür aufgestoßen. Sie führte in einen Raum, in dem völlige Dunkelheit herrschte. Die Umstehenden sahen sich stirnrunzelnd an. Leander Blauenstein war der Erste, der den Raum betrat und Licht machte.
„Anscheinend befindet sich hier etwas, was der Direktor lieber niemandem zeigen wollte“, sagte er scheinbar unbekümmert und winkte den anderen, ihm zu folgen.
„Vielleicht hat die Tür geklemmt, und Herr Kinsky bekam sie nicht auf?“, mutmaßte einer der Schwarzgekleideten.
„Ach was“, knurrte der andere, „die Tür ist ganz leicht aufgegangen. Da stimmt was nicht.“
Julius bekam allmählich das Gefühl, dass das Suchen des Schlüssels nur ein Vorwand war, damit er schnellstens das Weite suchen konnte. Schon wieder entkommt ein wichtiger Akteur dieses Komplotts, dachte er.
Er spürte seinen galoppierenden Herzschlag als Widerhall in seinem Kopf. Er wurde von Tscherba hinter dem Kaiser, der seltsam zaghaft durch die Tür trat, in den Raum geschoben. Von der Decke hingen mehrere große Kugellampen, die ein grelles weißes Licht verströmten. Der vor ihnen liegende Raum war eigentlich eher eine Flucht aus mehreren Räumen, und der Boden war in der linken Hälfte dieser Flucht etwa einen Meter höher als auf der anderen Seite. Im linken Teil führten aus verschiedenen verglasten Kabinetten Stufen auf die Ebene der Eingangstür hinunter. Oben in den kleineren Räumen standen Staffeleien mit schadhaften Gemälden, unten warteten Rahmen auf die Restaurierung. Auf großen fahrbaren Gestellen standen Leinwände und Holzstücke. Es roch nach Leinöl und Lack. Der Boden war an manchen Stellen mit Holzspänen übersät.
Leander Blauenstein stellte sich an die Spitze des Zuges und sah sich um. Schließlich ging er zu einem großen Tisch, auf dem schmutzige Lappen und verschiedene Pinsel lagen und auf dem zahlreiche Fläschchen und Dosen standen. Unter einem weißen Leintuch lugte die Ecke eines Gemäldes hervor.
Der Kaiser räusperte sich.
„Ich nehme einmal an, das ist unsere Medusa “, sagte Blauenstein und zog das Tuch weg. Tatsächlich – dort auf dem Tisch lag Rubens’ verstörendes Bildnis der geköpften Gorgone.
Der Kaiser trat neben Blauenstein und betrachtete es, als hätte er es noch nie in seinem Leben gesehen. Sein Backenbart schien sich zu sträuben, und zwischen den Augen bildete sich eine tiefe Falte. Julius konnte den Blick nicht von dem missbilligenden Gesicht des Monarchen abwenden. Dass er das Bild schrecklich und grausig fand, war offensichtlich. Vielleicht fragte er sich sogar, was dieser gruselige Anblick in seinem Museum zu suchen hatte, dachte Julius.
Franz Joseph wandte sich schnell wieder ab und sah sich in dem Raum um, wie ein gelangweiltes Kind, das einen neuen Gegenstand sucht, dem es seine Aufmerksamkeit schenken kann.
Leander Blauenstein winkte Julius zu sich.
„Ist das das Bild, das Sie gemeint haben?“
„Hat Rubens sonst noch eine Medusa gemalt?“, erwiderte Julius, und es klang gereizter als beabsichtigt. Er starrte auf das Gemälde, das ohne den Rahmen sehr nackt und unspektakulär aussah. Blauenstein nahm die Leinwand und drehte sie um.
„Sehen Sie irgendwo ein Viereck, das auf eine ursprüngliche, kleinere Spanngröße hindeutet?“
Julius starrte auf die blütenweiße, vollkommen regelmäßige Leinwand, auf der nur wenige Staubflecken zu erkennen waren.
„Es … es sieht so neu aus auf der Rückseite“, stellte er fest.
Auf einmal überfiel ihn eine lähmende Verzagtheit. Am liebsten hätte er Blauenstein gebeten, ihn nichts mehr zu fragen. Widersinnigerweise stellte er sich die Stille in der Gefängniszelle vor und wünschte sich dorthin zurück.
„Nun, wenn Direktor Kinsky sagt, dass das Bild gerade restauriert wird, ist das nichts Ungewöhnliches“, sagte Blauenstein, und in seiner Stimme lag wieder dieser aufmunternde Ton. Als wäre er ein geduldiger Lehrer, der einen Schüler seine eigenen Schlüsse ziehen lassen will, um ihn auf den Weg der Erkenntnis zu führen. „Wenn es stimmt, dass die Medusa Schaden genommen hat, dann wird unser guter Herr Kittelberger diese Leinwand sicherlich doubliert haben.“
„Was heißt das?“
„Man klebt ein Stück neue Leinwand unter die Originalleinwand, um dem Bild mehr Festigkeit zu geben.“
„Aber dadurch kann man nicht mehr feststellen, ob die Leinwand alt ist oder
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