Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
wollte Ihnen nicht verschweigen, dass er hier ist. Ich wollte nicht, dass Sie es irgendwann einmal von anderer Seite erfahren und mich für unaufrichtig halten.“
Statt einer Antwort stieß Maria Habermann einen bellenden Husten aus. Sie litt an einer aggressiven Form der Diphtherie und lag schon seit Monaten im Allgemeinen Krankenhaus. Das helle Einzelzimmer schottete sie von anderen Patienten ab, und ihre gesamten Ersparnisse aus ihrer Zeit als Schauspielerin in Deutschland flossen in diesen Luxus der Abgeschiedenheit. Ihr Körper war von der Krankheit schon so geschwächt, dass er nicht heilte und es immer wieder zu neuen Schüben kam. Und außerdem kamen in letzter Zeit zu diesen Symptomen immer wieder beunruhigende Phasen von Verwirrung. Johanna sah, dass die alte Frau verfiel, auch geistig. Maria Habermann ließ keine andere Pflegerin an sich heran außer Johanna, und sie war sich sicher, dass sie in diesem Raum sterben würde.
„Wie kannst du …“, röchelte Maria Habermann und funkelte die Krankenschwester trotz des Hustens wütend an.
„Er hat mich mit dem Kranz an Josephs Grab gesehen und ist mir damals gefolgt. Er dachte, ich wäre die Geliebte seines Vaters.“
„Du hast ihm doch nicht gesagt, von wem der Kranz kommt, oder?“ Maria Habermann atmete schwer und krallte die Finger in die Bettdecke.
Es schmerzte Johanna, dass sie die Kranke durch dieses Geständnis in einen solchen Aufruhr versetzt hatte.
„Nein, natürlich nicht.“
„Warum ist der Junge dann hier?!“, fauchte Maria Habermann. „Hat er sich mit der Syphilis angesteckt?“
„Er hatte einen schweren Unfall und erholt sich von einer Gehirnerschütterung.“
„Warum erzählst du mir das, Johanna? Ich habe dir gesagt, dass ich nichts wissen will von meinem Sohn. Glaubst du, ich fühle mich jetzt hier noch sicher?“ Ein neuer Husten schüttelte den ausgemergelten Körper der Frau.
„Beruhigen Sie sich, Maria. Ich verspreche Ihnen, dass ich Julius nicht sagen werde, dass Sie hier sind.“
„Er darf nicht einmal wissen, dass es mich überhaupt gibt!“, rief die Frau und presste die Hand auf den Mund. Ein panischer Ausdruck schlich sich in ihre Augen. „Sagen Sie ihm nichts von mir, ja?“
„Ich werde ihm nichts sagen. Ich verstehe allerdings nicht, warum Sie sich so davor fürchten.“
„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt: Ich habe mit diesem Teil meines Lebens abgeschlossen. Schauen Sie sich doch um. In Wien passieren zurzeit beunruhigende Dinge. Und mein Sohn ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Aber sein Vater ist verflucht. Und das, was gerade vorgeht, hat seinen Ursprung in diesem ebenfalls verfluchten Museum. Sobald Julius erfährt, dass es mich gibt, wird er mich über die Vergangenheit ausfragen, weil er glaubt, dass er so die Gegenwart besser verstehen kann. Aber das überlebe ich nicht. Ich will in Ruhe sterben.“
Der Redefluss hatte Maria Habermann erschöpft. Johanna nahm ein Tuch und tupfte ihr den Schweiß von der Stirn und reichte ihr ein Glas Wasser. Besorgt betrachtete sie Marias schwer pumpenden Brustkorb und fragte sich, wovor die Frau tatsächlich solche Angst hatte. Sie hatte schon viele Menschen sterben sehen. Fast alle wollten im Angesicht des Todes ins Reine kommen. Sie wollten Gewissheit, Vergebung und inneren Frieden. Maria Habermann hatte nun die Gelegenheit, ihren Sohn zu sehen, den sie kurz nach dessen Geburt verlassen hatte.
Johanna deckte die Frau zu und strich ihr über den Kopf. „Machen Sie sich keine Sorgen, Maria. Ruhen Sie sich aus.“
Sie stand auf und wollte das Zimmer verlassen. Doch an der Tür hielt die schwache Stimme der Frau sie noch einmal zurück. „Und Sie haben sich verliebt in Julius?“
Johanna sah zu dem dünnen Körper im Bett und schüttelte den Kopf.
„Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich wissen wollen.“
Die Augen der alten Frau weiteten sich. „Er wird sich an mir rächen, wenn er es erfährt“, sagte sie dumpf. „Und er hätte recht damit. So eine Mutter wie ich … ach. Ich muss sowieso in der Hölle brennen für das, was ich getan habe.“
***
Als Johanna an diesem Nachmittag in den Schlafsaal ihrer Station kam, saß Julius Pawalet auf der Bettkante und knöpfte sein Hemd zu.
„Was haben Sie vor?“, fragte sie erschrocken.
Julius schwieg, und Johanna fühlte einen leichten Schmerz im Hals.
„Aber Sie waren nicht einmal eine Woche hier. Sie können noch nicht wieder nach Hause!“
„Es geht mir gut“, sagte
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