Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Julius.
Johanna setzte sich neben ihn. Sie hatte die ganze Woche nicht daran gedacht, wie es werden würde, wenn Julius’ Entlassung anstand, denn diese Woche hatte den tristen Krankenhausalltag aufgehellt. Sie hatte den Gedanken an seine Entlassung verdrängt, und nun saß er hier und schickte sich an, sie zu verlassen. Johanna legte ihm die Hand auf den Arm.
„Julius, Sie sind noch viel zu schwach, Sie brauchen Ruhe.“
Er wandte sich zu ihr und lächelte sanft. Johanna spürte die Wirkung dieses Lächelns irgendwo tief im Bauch. Die drohende Leere seines Bettes erzeugte eine nagende Unruhe in ihr.
„Johanna, ich gebe zu, dass ich nur aus einem einzigen Grund bleiben würde, und das sind Sie. Ich würde Sie gern auch außerhalb dieser Mauern treffen.“
Sie senkte beschämt den Blick. „Aber Sie haben doch überhaupt nichts zu tun da draußen. Das Kunsthistorische Museum hat seine Pforten geschlossen.“
„Wie bitte? Woher wissen Sie das?“, fragte er erschrocken.
„Es stand gestern schon in der Zeitung. Auf Anordnung des Kaisers. Die Menschen sind anscheinend zu Hunderten in die Galerie geströmt und haben vor den Bildern ein Volksfest veranstaltet.“
„Oh, das ist gar nicht gut …“, murmelte Julius. Er starrte zwischen den Leinenvorhängen in die Ferne und knöpfte sein Hemd ganz zu. In Windeseile schlüpfte er in Hose und Schuhe.
„Ich schreibe Ihnen meine Adresse auf“, sagte Johanna hastig. „Sie sind ganz allein, niemand kann nach Ihnen sehen. Wenn Sie möchten, melden Sie sich bei mir, falls es Ihnen schlechtgeht.“
Julius sah sie erstaunt an. Dann sagte er: „Und ich habe mich schon gefragt, ob ich es wagen kann, Sie genau darum zu bitten.“
***
Mit steif gefrorenen Fingern umschloss Julius das kleine Stück Papier mit Johannas Adresse, das in seiner Jackentasche steckte. Den ganzen Weg vom Allgemeinen Krankenhaus im Alsergrund bis nach Mariahilf ließ er es nicht los.
In der Elektrischen lehnte er den Kopf gegen die eisige Fensterscheibe. Um ihn herum stieg der metallische Geruch des Schnees aus den Mänteln der anderen Fahrgäste. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, das Krankenhaus zu verlassen, dachte Julius. Der kurze Weg zur Haltestelle hatte ihn so angestrengt, dass er am liebsten sofort wieder ins Bett gesunken wäre. Das Schlimmste war aber nicht die Schwäche, die ihn außerhalb des Krankenhauses überfiel. Es war die Tatsache, dass er nun Johannas Fürsorge missen musste.
Julius versuchte, die sentimentale Sehnsucht nach ihr zu verscheuchen, doch ihr letzter besorgter Blick hatte sich hinter seiner Stirn eingenistet. Neben der Erinnerung an Luises bösartige Wohltaten.
Als Julius in seine Wohnung zurückkehrte, fragte er sich, wie es jetzt weitergehen sollte. Das Kunsthistorische Museum war also bis auf weiteres geschlossen. Und selbst wenn es wieder geöffnet werden würde, war er mit Sicherheit nicht mehr erwünscht dort. Die Tatsache, dass er in der Wohnung saß, in der der Mörder seinen ersten Mord begangen hatte, tat ein Übriges, dass er nicht zur Ruhe kam. Doch die klirrende Kälte, die in die so lange nicht benutzten Zimmer gekrochen war, beendete sein nervöses Nachdenken.
Er ging hinaus in den Flur, wo ein großer Korb mit Holzscheiten stand, den der Hauswirt seinen Mietern zur Verfügung gestellt hatte. Julius nahm ein paar Scheite, um in dem kleinen Kanonenofen in der Küche ein Feuer anzuzünden. Er kniete sich vor die offene Ofenklappe und wollte gerade Holz und Zeitungspapier hineinschichten, als sein Fuß gegen einen Widerstand stieß. Er beugte sich hinunter. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn, und der pochende Schmerz in seiner Schläfe meldete sich wieder. Julius tastete auf dem Boden nach dem Widerstand und sah, dass eine der Bodendielen sich verzogen hatte. An einem Ende stand sie ein ganz klein wenig über, nur einen halben Zentimeter. Augenblicklich schüttelte Julius seine Schwäche ab. Plötzlich überkam ihn die untrügliche Gewissheit, dass der Mann, der seine Vormieterin getötet hatte, sich genau an dieser Bodendiele zu schaffen gemacht hatte. Julius hatte dessen kalte Präsenz in der Wohnung gespürt. Julius verscheuchte den Gedanken, dass die Gehirnerschütterung vielleicht seine Sinne verwirrte, und fasste an das Dielenbrett. Es saß ganz locker zwischen den anderen Brettern und ließ sich überraschend leicht herauslösen. Julius beugte sich vor und schaute in die kleine Vertiefung vor ihm.
Da lag etwas unter dem
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