Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
Fußboden.
Julius meinte ein elektrisches Kribbeln an seinen Fingern zu spüren. Er schloss die Augen und tastete nach dem hellen, eckigen Umriss, der dort unten im Schatten lag.
Es war ein Bild. Die Leinwand war nicht größer als 30 auf 30 Zentimeter.
Der Geruch von frischer Ölfarbe stieg ihm in die Nase.
Liselotte Kromichl war eine schöne Frau gewesen.
Auf der Polizeifotografie, die Lischka Julius vor kurzem gezeigt hatte, war ihm diese Schönheit entgangen. Hier auf dem Porträt, mit offenem Blick und mit einem weißen, elegant geschlungenen Tuch um den Hals, sah die Frau aus wie eine der langgliedrigen Nymphen, die Klimt malte und deren Reproduktion Julius aus den Kunstmagazinen kannte, die zurzeit in der Auslage jedes Buchhändlers zu betrachten waren. Ein leises Lächeln umspielte ihre breiten, sinnlichen Lippen. Sein Verstand wollte diese einfache, aber blühende Frau nicht mit der vom Tod entstellten barbusigen Gestalt in Einklang bringen, die Lischka ihm gezeigt hatte.
Doch diese Entdeckung war zweitrangig.
Er war es, der mit seinem Pinselstrich Liselotte Kromichl noch zu Lebzeiten erfasste und der sie später vernichtete. Er war es, der mit seiner feinen, plastischen Malweise einen Menschen in porträthafter Schlichtheit auf ein kleines Stück Leinwand gebannt hatte und diesen Menschen später in ein viel komplizierteres Kunstwerk einband und dort erstarren ließ.
Julius hielt das Werk eines Mörders in Händen.
Er drehte es um und betrachtete die Rückseite. Ein einfacher Keilrahmen aus billigem Holz. Er entdeckte jedoch nirgendwo einen Stempel oder sonst einen Hinweis auf denjenigen, der ihn gefertigt hatte. Auch auf dem Porträt selbst war nichts, was einen Anhaltspunkt gab. Der Maler hatte das Bild nicht signiert.
Julius schien es, als saugte das Porträt ihn ein, als bannte es seine ganze Konzentration.
Wenn er ganz aufmerksam war und kein Detail übersah, konnte er dem Wesen des Mannes, der dieses Bild gemalt hatte, näherkommen, das wusste Julius. Wer war dieser Maler, und was konnte die Malweise ihm über ihn sagen? Was war er für ein Mensch, dass er ausgerechnet so und nicht anders malte? Das Bild war gut gemalt, mehr nicht. Die Kunst war in dieser Zeit im Umbruch, und viele Maler ließen gefälliges, dreidimensionales, naturalistisches Malen hinter sich.
Dieser Maler hier legte offenbar keinen Wert auf Neuartigkeit. Das Bild zeigte eine Detailversessenheit wie bei einem barocken Stillleben. Die Darstellung war äußerst wirklichkeitsnah, ja geradezu fotografisch genau. Der Maler hatte Talent, das stand außer Frage. Das Porträt jedoch wirkte seltsam leblos. Der Glanz von Liselotte Kromichls Augen war zwar höchst realistisch, doch mit der irreführenden Wirkung von gläsernen Puppenaugen. Ihr Mund schien allzu starr, obwohl sie lächelte, und das Haar, auf dem man jeden Lockenschwung mit dem Spiel von Schatten und Licht erkennen konnte, sah aus wie eine gestärkte, steife Perücke. Die Kräuselung des Spitzenkragens war mit übertriebener Genauigkeit ausgeführt, als wollte der Maler auf jeden Fall sein Können unter Beweis stellen. Julius fragte sich, ob der Maler an der Kunstakademie studiert hatte. Er wusste, dass das Dogma der Akademie immer noch vorschrieb, gegenständlich und plakativ realistisch zu malen. Dort brachte man den Studenten die Maltechniken bei und baute die handwerklichen Fähigkeiten aus. Doch den Ausdruck, das innere Leuchten eines Bildes konnte man auch einem technisch noch so begabten Maler nicht beibringen. Diese Ansichten kannte Julius aus den Kunstzeitschriften, die er manchmal gebraucht bei einem Papierhändler gekauft hatte. Und er fand, dass das Porträt in seinen Händen ein gutes Beispiel war für die Seelenlosigkeit eines Meisterwerks. Dieser Maler hier hatte zweifellos eine künstlerische Gabe, doch es war ihm nicht gelungen, es auch lebendig werden zu lassen. Das Bild war die bloße Abspulung technischer Raffinesse, mehr nicht.
Plötzlich glaubte Julius zu erkennen, dass auch dem Maler selbst diese Seelenlosigkeit bewusst war. Er weiß, dass seine Kunst keinerlei Einzigartigkeit besitzt, dachte er.
Als hätte das Porträt der toten Frau Kromichl ein unsichtbares Türchen in die Seele des Mannes geöffnet, sah Julius plötzlich, dass die Suche nach Einzigartigkeit, die jeder Maler anstrebt, diesen hier zum Mörder gemacht hatte. Er weiß, dass er mit dem Pinsel zwar sehr ausgefeilt ist, aber ohne jede Tiefe. Keiner wird sich an ihn erinnern. Er
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