Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
seiner Weste bereits die Knöpfe absprangen.
Luise schlüpfte aus ihren Lederstiefeln. Sie steckte zwei Schuhspanner aus feinstem Holz in ihre Stiefel und stellte sie ordentlich zu den anderen Schuhen in den geräumigen Schrank. Doch die Verschwendungs- und Prunksucht des Hofrats hatte ein Gutes. Sie bekam Geld für fast alles, was sie sich wünschte. Zusätzlich zu den Einnahmen aus der Hand ihrer Gönner. Und da der Hofrat sich nach teuren Stoffen, zarter Unterwäsche und vor allem nach knirschendem Leder verzehrte, konnte Luise ihrer eigenen Begierde nach diesen Dingen hemmungslos nachgeben.
Sie bedauerte ihren Gatten von Jahr zu Jahr mehr. Eines Tages musste er doch genug haben von der Macht, die er heimlich hinter der tadellosen Fassade seines Namens ausübte. Seit Jahrzehnten regierte er sein eigenes Imperium, ohne dass jemand etwas davon ahnte. Luise wusste nicht, wie es dazu gekommen war, dass Viktor von Schattenbach die Hände in einem Spiel hatte, das man landläufig als kriminell bezeichnen würde. Denn nachdem Luise dem Werben des Hofrats nachgegeben hatte und seine Frau geworden war, offenbarte sich allmählich das Doppelleben, das ihr Mann führte. Und sie war schon bald ein Teil davon geworden.
Kriminell war die Energie, die in dem scheinbar so unbeweglichen Körper Viktors floss. Diese Energie war Teil seines Wesens ebenso wie der unersättliche Hunger auf Süßes und Fettiges und wie die hündische Demut, die er ihr gegenüber an den Tag legte.
Es war schon immer in ihrem Interesse gewesen, sich selbst auszuleben und ein Leben zu führen, das die feinen Damen von Wien in die Ohnmacht getrieben hätte, wenn sie es gewusst hätten. Sie wollte das Leben einer antiken Königin in einer Gesellschaft von katholischen Lakaien führen. Sie wollte die Gelüste befriedigen, die ihre Standesgenossinnen unter einer dicken Schicht sozialer Ketten abgewürgt hatten. Luise von Schattenbach wollte frei sein vom Anspruch, ein dekorativer Gegenstand mit guten Manieren zu sein. Sie war nicht als Frau auf die Welt gekommen, um in dem Abgrund zwischen ihren Schenkeln einen neuen Sklaven zu züchten und mit ihrer Milch zu füttern. Sie war keine Frau, um Zierde und Freude eines Mannes zu sein.
Nein, Luise von Schattenbach war eine Frau, die die Macht erleben wollte, die ihrem Geschlecht seit Urzeiten zustand. Sie war ein Gefäß der Überlegenheit, die den Frauen längst aberzogen worden war. Luise von Schattenbach wusste um diese Macht schon seit ihren Mädchentagen. Von der Lust, die sie unter ihren weißen Unterröcken empfand bei dem Gedanken, einem Mann weh zu tun, ein winziges Stück der jahrhundertealten Ungerechtigkeit durch ihr Handeln wieder auszugleichen. Eine kleine Facette der unnatürlichen Verhältnisse der Menschheit für sich wieder umzukehren. Wie konnte sie sich dann beschweren, dass sie einem Mann begegnet war, der sie gewähren ließ?
Der Hofrat mochte ein Mörder sein, aber solange er das Leben schützte, das sie führen wollte, war es ihr egal. Luise von Schattenbach wusste, dass sie sich mitschuldig gemacht hatte. Sie spielte längst ihre eigene grausame Rolle in seinem Spiel. Und sie genoss diese Rolle über alle Maßen. Warum den wunderbaren Luxus, die Freiheit und das Exklusive aufgeben, wenn man nur ab und zu ein paar Drohungen ausstoßen musste? Warum die Tugendhafte spielen, wenn sie gar nicht tugendhaft war? Warum nicht einen Teil ihrer wunderbaren Verderbtheit, wie der Hofrat es genüsslich nannte, auf die Probleme des Lebens anwenden?
Jan Groukoult war so ein Problem gewesen. Er hätte dem Hofrat und seinem Imperium schaden können. Doch Luise hatte ihren Teil dazu beigetragen, dass er den Mund hielt und ihnen nicht in die Quere kam.
Otto Grimminger war ebenfalls ein Problem. Er war zwar die wichtigste Person in diesem Spiel, aber die Gefahr, die er darstellte, war nicht länger zu leugnen.
Doch solange Luise jeden Tag im Kunsthistorischen Museum war, hielt sich diese Gefahr in Grenzen.
Gustav Kinsky war das größere Problem. Und natürlich Julius Pawalet.
Doch Luise von Schattenbach machte sich keine Sorgen. Sie würde den kleinen abgerissenen Saaldiener schon in den Griff bekommen.
Sie schlüpfte aus ihrem Winterkleid und machte sich daran, das Korsett aufzuschnüren. Andere Frauen hatten zu diesem Zweck Zofen und Dienstmädchen. Doch sie wollte sich das Vergnügen nicht nehmen lassen, ihr Korsett selbst zu schnüren und später auch wieder zu lösen. Manchmal ließ sie es
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