Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien

Titel: Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Hasler
Vom Netzwerk:
Wegbiegung, unter einer ausladenden Kastanie. Hier war plötzlich Schatten, die Sonne drang nicht durch die Äste, und Julius fröstelte. Und dann brach es plötzlich aus ihm heraus: „Johanna, du … bist die erste Frau, mit der ich eine Verabredung habe.“
    Johanna blieb so unvermittelt stehen, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen.
    „Warum erzählst du mir das, Julius?“, fragte sie und sah ihn unverwandt an.
    „Weil ich dachte, es wäre besser. Vielleicht hast du keine Lust, die Zeit mit einem glücklosen Strolch wie mir zu verbringen.“
    In „Wer sagt dir, dass ich Zeit habe, die ich vertreiben will? Das wäre eine Sünde, findest du nicht? Wer weiß, wie viel Zeit ich noch habe.“
    „Wenn du dich weiterhin mit mir abgibst, vielleicht nicht mehr allzu viel. Du weißt ja, dass ich mit einem Bein immer in schlechter Gesellschaft bin.“
    In Johannas Blick lag ein zärtlicher, aber ernster Ausdruck. „Küss mich“, sagte sie.
    Julius traute seinen Ohren nicht.
    „Küss mich“, sagte sie noch einmal. Ihre Stimme klang unbekümmert und gleichzeitig streng. Als wäre das, was sie von Julius wollte, eine Pflicht, vor der er sich nicht drücken konnte.
    Also beugte er sich vor, näherte sich dem von der Kälte geröteten Gesicht unter der schlichten Wollmütze und küsste Johannas Mund. Ihre Lippen waren kühl und feucht. Er wollte sich schnell wieder von ihr lösen, doch sie schlang ihm die Arme um den Hals und hielt seine Lippen fest. Und dann drängte eine warme, raue Zungenspitze in seinen Mund, sodass er nicht mehr zurückkonnte. Johanna küsste ihn mit der Verzweiflung einer Frau, die seit ihren Mädchentagen auf diesen Moment zu warten schien. Ihre Zunge war wie das Tentakel eines Tieres, das sich jahrelang unter einem Felsen versteckt hatte und nun wild entschlossen hervorschnellte, als wollte es einen verloren gegangenen Teil seines Lebens nachholen. Und er gab sich dieser drängenden, feuchten Wärme hin, in die Johanna ihn zog. Julius war überwältigt. Seine Gedanken leerten sich.
    Doch im nächsten Moment war es schon wieder vorbei.
    Johanna löste sich von ihm, sah ihn harmlos lächelnd an, als wäre nichts geschehen, und sagte: „So. Jetzt haben wir uns kennengelernt. Jetzt kannst du mir alles erzählen, was wichtig ist.“
    Sie hakte sich wieder bei Julius unter, und sie spazierten weiter durch den Schnee. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
    „Also, Julius, erzähl mir, warum du ein Unglücksrabe bist und so weiter.“
    Julius hatte sich immer gefragt, wie zwei Menschen zusammenkommen konnten. Er hatte sich eine lange, mühsame Zeit des Werbens und Wartens vorgestellt. Eine Reise ins Ungewisse, zwischen Hoffen und Bangen. Und jetzt ging er hier neben einer Frau, die ihm gerade offenbart hatte, dass sie mit ihm zusammen sein wollte. Einfach so.
    Sie ist verliebt in mich, dachte Julius.
    Und so erzählte er. Er ließ nichts aus und vertraute Johanna alles an. Was soll’s, dachte er, besser sie erfährt jetzt alles, dann kann sie es sich immer noch anders überlegen. Besser so, als wenn sie später etwas herausfindet und sich dann zurückzieht.
    Er erzählte von seinem Vater, von dessen Trunksucht und davon, dass die Verbindung zwischen ihnen abgerissen war. Von dem Vermächtnis, das Julius vor nicht einmal einem Monat angetreten hatte. Von den unheimlichen Vorkommnissen im Kunsthistorischen Museum, von seinem Verdacht gegen den Kopisten, von Lischkas Suche nach dem Mörder, von dem Porträt unter den Dielen in seiner Wohnung.
    Nur Luise fand keinen Platz in seiner Erzählung.
    Julius redete sich ein, dass sie es nicht verdient hatte, Teil seiner Lebenszusammenfassung zu sein. Doch er wusste, dass nichts, was es über Luise zu sagen gab, Johanna gefallen konnte. Also tat er so, als gäbe es die schwarze Witwe gar nicht.
    „So, dann bist du also ein Mann, der in Gefahr schwebt“, fasste Johanna seinen Bericht zusammen. Sie hatte gebannt gelauscht und ihn kein einziges Mal unterbrochen.
    „Ja, es kann sein, dass ich bald wieder arbeitslos bin oder dass ich einfach verschwinde. Und ich hoffe, dass der Bildermörder nicht weiß, dass ich sein Porträt gefunden habe, sonst könnte es sein, dass auch ich bei dem Kerl schlechte Karten habe.“
    „Eins versteh ich nicht“, sagte Johanna nachdenklich. „Wie kommt es, dass du diesen … diesen Blick hast? Wie kann ein einfacher Mann wie du das alles … sehen?“
    „Jeder andere könnte das auch“, erwiderte er.
    „Nein,

Weitere Kostenlose Bücher