Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
blitzen, als wäre das weiße Pulver auf den Bäumen und Büschen Diamantenstaub.
Julius Pawalet zitterte in seinem Wintermantel, aber nicht vor Kälte, sondern weil er erschrak vor seinem eigenen Mut.
Vor zwei Tagen hatte er einen kurzen Brief an Johannas Adresse geschickt. In einem Papierkorb in seiner kargen Wohnung lagen ein Dutzend zerknüllte Bemühungen, sich der jungen Krankenschwester erneut anzunähern. Julius hatte keine Ahnung, wie er die Einladung zu einem gemeinsamen Winterspaziergang an eine Frau formulieren sollte. Doch diese Annäherung war nichts als der krampfhafte Versuch, den Anblick von Luises nacktem milchweißen Körper mit all dem Geschmeide aus dem Kopf zu bekommen.
Doch nachts, wenn er unruhig in seinem Bett lag, meldete sich das Gift, das Luise auf geheimnisvolle Weise in seinen Körper geträufelt hatte. Seine Lenden fühlten sich bei dem Gedanken an sie an wie ein überkochender, unerträglich süßer Pudding über einem Feuer, das immer wieder von neuem entfacht wurde. Er konnte nichts dagegen tun, außer den glühenden Topf dort unten überquellen zu lassen.
Beschämt starrte er danach in die Dunkelheit und versuchte, das maliziöse, triumphierende Grinsen Luises aus dem Kopf zu verscheuchen. Ihm wurde klar, dass sie in jeder einsamen Minute, die er mit der Hand unter der Bettdecke gedanklich in ihrem Dachsalon zwischen all den fremdartigen Gegenständen verbrachte, einen Sieg über ihn davontrug.
Ein seltsamer, unbekannter Stolz erfasste Julius, als er begriff, dass er diese Frau verabscheute und begehrte zugleich. Sie war wie eine Tollkirsche, die man sich in den Mund steckte, weil ihr schwarzer, feuchter Glanz so verlockend war, nur um sich danach in Todeskrämpfen zu winden.
Ja, Julius Pawalet fürchtete sich vor der Frau des Hofrats.
Und deswegen richtete er seine Gedanken mit aller Macht auf Johanna.
Johanna, die ihn in seiner dunkelsten Stunde getröstet hatte. Die irgendwo in seinem Bewusstsein in einem Kokon aus schönen Gefühlen lag, an die er sich aber nicht herantraute. Johanna nämlich erschien ihm nicht wie eine Tollkirsche, sondern wie ein Strauch voller Beeren, den er hungrig abernten würde, nur um sich dann ängstlich zu fragen, ob je wieder etwas daran wachsen konnte.
Also hatte er ihr einen scheuen Brief geschrieben und sie gebeten, mit ihm einen halben Tag zu verbringen, mit ihm einen Spaziergang zu machen, und ihr vorgeschlagen, in einem kleinen Lokal etwas zusammen zu essen.
Schon am Abend desselben Tages kam Johannas Antwort.
Lieber Julius, es freut mich zu hören, dass Du so gesund bist, dass Du auf solche Gedanken kommst. Und da ich unmöglich meiner Verantwortung als Krankenschwester zuwiderhandeln kann, was die Auswirkungen von frischer Luft und Bewegung auf die Genesung eines Patienten betrifft, sage ich ja. Wir treffen uns am 23. um 1 Uhr am Praterstern. Ich freue mich.
Johanna.
Noch vor einem halben Jahr hätte Julius sich bei dem Gedanken, eine Frau zum Abendessen auszuführen, gefühlt wie ein Kohlenhändler, der mit einer Novizin tanzen soll, ohne ihr weißes Gewand zu beschmutzen. Er hielt diesen Umstand schlichtweg für eine absolute Unmöglichkeit. Doch wie es sich herausstellte, war alles ganz einfach, als Johanna sich bei ihm unterhakte und an dem bescheidenen Blumensträußchen roch, das er ihr mitgebracht hatte. Es waren Blumen aus einem Gewächshaus in Simmering, solche, wie man sie jetzt auf den Gräbern fand.
An diesem strahlend schönen und eisig kalten Nachmittag waren anscheinend alle Familien von Wien in den Prateralleen unterwegs. Kinder bettelten ihre Eltern um den Eintritt in den berühmten Wurstelprater an, doch die Ringelspiele standen wegen des harten Frosts still, und das Riesenrad sah aus wie ein gigantisches Stahlgerippe.
Am Rand einer der Alleen waren Kulissen für Familienporträts aufgebaut. Ein Fotograf kauerte hinter dem Vorhang seines Apparates und lichtete junge Verliebte und Ausflügler ab. Adelige Damen hatten sich mit ihren Reitlehrern unters Volk gemischt und führten ihre edlen Rappen und protzigen Pelze vor. Und alle paar Meter erklangen die schrillen Schreie der Papageien, die auf den Schultern der Planetenverkäufer saßen. Junge Mädchen ließen sich von den Vögeln Glückszettel aus dem Kasten des Verkäufers ziehen, um zu erfahren, wie es um ihr Schicksal bestellt war.
„Möchtest du auch?“, fragte Julius Johanna und zeigte auf einen der Männer, der ein Schild um den Hals trug, auf dem
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