Das Sternenprogramm
Zweifel hinsichtlich Donovans Deutung der Ereignisse
waren in den vergangenen Tagen in dem Maße gewachsen, wie
sie ihre Sicherheitsvorkehrungen im Hinblick auf die angedrohte
terroristische Offensive verstärkt hatte. Sie hatte bereits
eingeräumt, den Zugang zu Donovans Ressourcen dazu genutzt
zu haben, Abwehrmittel gegen sein Softwarearsenal zu entwickeln
– das war beinahe ein Reflex gewesen, dem sie nachgegangen
war, noch ehe sie sich ernsthafte Sorgen gemacht hatte. Nachdem
die Bedrohung durch seine üblichen Sabotageaktionen
beseitigt war, hatte sie, aufbauend auf ihrer großen
Erfahrung, Antigen-Systeme programmiert, die auf Donovans
unverwechselbares Profil ansprachen, auf die nahezu
unauslöschlichen Spuren, welche seine Persönlichkeit
dem Programm aufprägte und die von mittlerweile
standardmäßig eingesetzten Protokollen (die
ursprünglich entwickelt worden waren, um die
Authentizität biblischer Texte zu überprüfen)
nachgewiesen werden konnten. Anschließend hatte sie (was
wiederum einer gewissen Ironie nicht entbehrte) die Programme dem
Härtetest unterzogen, mittels eines genetischen Algorithmus
die besten Entsprechungen ausgewählt, Replikate hergestellt
und war von da aus weiter fortgeschritten…
Was sie nur ungern eingestanden hätte, war der Umstand,
dass sie in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeschränkt war.
Auf Grund der allgemeinen Zunahme von Paranoia in der Enklave war
schwer festzustellen, wer sie möglicherweise beobachtete.
Man hatte ihr ihre zweifelhafte Vergangenheit als Mitglied von
Donovans Organisation nie zum Vorwurf gemacht, doch wenn
Köpfe rollen mussten, würde man notfalls darauf
zurückgreifen.
Als Reaktion auf das Chaos am Nachmittag hatte sie
sämtliche neu entwickelten Search-and-destroy-Programme in
die Netzwerke geworfen. Obwohl sie keine Wirkung zeigten, hatte
sie das Vertrauen in sie nicht verloren: sie nahm dies als klaren
Hinweis darauf, dass Donovan bei den epidemischen
Systemabstürzen seine Hand nicht im Spiel gehabt hatte.
Und jetzt hatten ihre Programme ihre Wirksamkeit unter Beweis
gestellt! Im Kampf mit dem Besten, was Donovan zu bieten
hatte!
»Bloß deshalb, weil mir jemand eine
Horrorgeschichte über AIs auftischt, die angeblich die Welt
übernommen haben, als wir gerade nicht aufpassten«,
sagte sie zu Bleibtreu-Fèvre, »bin ich nicht bereit,
eine Position preiszugeben, die einen solch großen Vorteil
für mein Gemeinwesen bedeutet, von der Gesellschaft im
Allgemeinen ganz zu schweigen. Ich finde es äußerst
suspekt, dass dies alles in einem Moment passiert sein soll, da
sich verschiedene terroristische Streitkräfte offenbar auf
einen Angriff auf ihre jeweiligen Regierungen vorbereiten. Ich
würde sagen, dieser Umstand sowie die Gegenmaßnahmen
reichen als Erklärung für die Zunahme des
Datenaufkommens und unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten
vollkommen aus. Ich rate davon ab, die Probleme dadurch zu
verschärfen, dass wir Donovans Monster freisetzen. Eine
Beschädigung des Dissembler-Codes kommt überhaupt nicht
in Frage! Herrgott noch mal! Was Sie da von mir verlangen, ist
ein Kapitalverbrechen.«
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte
Bleibtreu-Fèvre Donovans Beispiel folgen und sich in eine
Kultführer-Wut hineinsteigern, dann wurde er auf einmal
geradezu unnatürlich ruhig (was keineswegs verwunderlich
war).
»Wir stecken in einer Sackgasse«, sagte er.
»Jedenfalls muss ich sagen, ich an Ihrer Stelle würde
mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, was die Behörden
von meiner Vorgehensweise halten mögen. Deren Sturz
könnte nurmehr eine Frage von Tagen, wenn nicht gar Stunden
sein.«
»Seit wann«, fragte sie spöttisch,
»wäre das ein triftiger Grund für Sie?«
Bleibtreu-Fèvre blieb verborgen, dass sie auf eine
Beleidigung reagierte. »Also schön«, sagte er.
»In nächster Zeit, binnen Tagen oder Stunden, wird
eine von zwei Möglichkeiten eintreten. Entweder die
Weltraumverteidigung zerstört die Datensphäre, oder die
Datensphäre entgleitet menschlicher Kontrolle. Wenn die
Bomben fallen oder die Nachkommen des Uhrmachers aus ihren
Schlupflöchern hervorkommen, dann werden Sie sich noch
wünschen, tot zu sein. Ich werde weiterhin Donovan helfen.
Melden Sie sich, wenn Sie es sich anders überlegen sollten.
Auf Wiedersehen.«
Klick.
Melody Lawson starrte lange Zeit auf den leeren Bildschirm.
Die Selbstgewissheit des Stasis-Agenten hatte sie
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