Das Sternenprogramm
Neubürger, die für ein halbes Jahr ins
Umsiedlungslager geschickt wurden, um anschließend in eine
Barackensiedlung verfrachtet zu werden. Dieses Schicksal drohte
jedem Dorf, das sich nicht der republikanischen Miliz
anschloss.
Man nannte es ›Weichklopfen und Evakuieren‹.
Am Abend lagerten sie in einem Dorf mit richtigen Häusern
aus Stein, an dem die Hauptstraße vorbeiführte. Es war
eines jener Dörfer, die stets dem Königreich
angehört hatten und nun mehr oder minder freiwillig zur
Republik übergelaufen waren, um Schutz vor den Barbaren zu
bekommen. Die Einheit hatte nicht die Absicht, sich in den
Häusern einzuquartieren und die Dorfbewohner gegen sich
aufzubringen, und bezog stattdessen ein altes Gebäude, das
einmal als Grundschule gedient hatte. Es war von einer hohen
Mauer umgeben und verfügte über eine Küche, eine
Kantine – und zum Entzücken der Soldaten sogar
über funktionierende Duschen.
Wills brachte sein Essenstablett an den Tisch, den Janis sich
mit drei anderen Soldaten teilte. Die Kantine wurde vor allem von
der aus der Küche dringenden Infrarotstrahlung erleuchtet.
Alle hatten ihre VR-Brillen an. Die Falschfarben des Essens
schlugen auf den Appetit, doch das machte der Duft wieder wett.
Aus Gewohnheit langten sie hastig zu.
Nach einer Weile sagte Wills: »Du hattest Recht, Taine,
weißt du.«
Sie schaute hoch und wischte den Teller mit Brot ab.
»Ich weiß.«
Politische Diskussionen wurden in der Armee nicht behindert.
Bis jetzt hatte Janis nicht den Wunsch verspürt, daran
teilzunehmen. Es fiel ihr noch immer schwer, sich von der
Erinnerung an diese schockierende, wohlvertraute Stimme zu
lösen. Doch sie konnte dem nicht auf Dauer ausweichen
– das war Teil der Mahnung, die mit dieser Erinnerung
einherging.
»Warum müssen wir das tun?«, fragte sie.
»Glaub nicht, ich wäre ein Schwächling. Ich habe
gute Gründe, diese Leute zu verachten. Aber weshalb lassen
wir die Barbaren nicht einfach in Ruhe, solange sie uns in Ruhe
lassen? Weshalb müssen wir sie zwingen, Partei zu ergreifen,
wenn die meisten sich für den Gegner entscheiden?«
»So ist das nun mal im Bürgerkrieg«,
antwortete Wills. »Es gibt keine Neutralität. Die
denken genauso. Was hatte ihnen der arme Kerl denn
getan?«
Janis schob den Teller zurück. Das Fleisch hatte sie
nicht aufgegessen. Sie steckte sich eine Zigarette an. Die
meisten Genossen rauchten. Einmal hatte sie in einer schwierigen
Lage eine Zigarette angenommen, und dann kam die
nächste… Moh hatte mit seiner Bemerkung über die
Lebenserwartung Recht gehabt.
»Vielleicht«, meinte sie, »hat er ja
versucht, sie dazu zu bewegen, Partei zu ergreifen, und sie haben
das als Affront aufgefasst.«
Die anderen am Tisch rutschten unruhig auf den Stühlen.
Janis hörte das leise Klirren der Ausrüstung. Jemand
schnaubte.
»Du bist selbst eine Art Neubürgerin, nicht wahr,
Taine?«, fragte Wills mit leiser Stimme.
Das Gewehr lag schwer und massiv zwischen ihren
Füßen. Schweigen breitete sich im Raum aus.
Sie blickte Wills an und bemerkte, dass jemand hinter ihm
stand. Ein anderer Kader, der herbeigeeilt war, um die
aufgeregten Gemüter zu beruhigen. Sie wandte den Blick von
Wills ab, um zu sehen, wer das war.
Mohs spöttische Augen schauten sie an, seine verschmitzt
lächelnden Lippen formten die Worte »Erinnere
dich«, und dann war er auf einmal verschwunden. Ihr
sträubten sich die Härchen an Wangen und Hals, eine
Instinktreaktion aus der Eiszeit.
Erinnere dich.
»Civis Britannicus sum«, sagte sie. Sie
breitete die Hände aus, hielt sie deutlich sichtbar vor
sich, ganz entspannt mit Ausnahme der Finger, welche die
Zigarette hielten: kleine Rauchringe stiegen von der zitternden
Hand empor. »Du hast Recht, Wills, ich weiß nicht,
wie es in all den Jahren war. Ich habe den Verrat nicht so
empfunden wie ihr.« Sie lehnte sich zurück und nahm
einen Zug. »Ich kannte mal einen Mann, der hat die
Erfahrung gemacht.« Sie lächelte, innerlich
bebend.
Wills nickte. »Schon gut, Taine. Nichts für
ungut.« Sie wusste, dass dies bei ihm einer umfassenden
Entschuldigung gleichkam. Er schaute sie an, als wüsste er,
wovon sie redete. »Wir wissen alle Bescheid, wie?« Er
blickte sich am Tisch um. »Gens una
sumus.«
Später entdeckte jemand in einem Schrank eine verstaubte
Gitarre und brachte sie berauscht mit in die Kantine, und sie
sangen Kriegs- und Revolutionslieder,
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