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Das Sternenprogramm

Das Sternenprogramm

Titel: Das Sternenprogramm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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mehr Platz bekommen und hatte nun
den ganzen Dachboden für sich.
    Als er die Treppenleiter zum Dachboden hochstieg, vernahm er
leises Stimmengemurmel. Der Adrenalinstoß brachte sein Herz
ins Stolpern. Als sein Kopf die Bodenkante überragte,
blickte er durch die offene Tür seines Schlafzimmers. Seine
Eltern saßen Seite an Seite auf seinem Bett und blickten
gerade von einem Buch auf, das aufgeschlagen auf ihrem
Schoß lag. Zu ihren Füßen lagen alte
Taschenbücher und noch ältere Hardcoverausgaben
verstreut. Diese Bücher hätte er eigentlich nicht
besitzen dürfen, er hatte sie hie und da von Antiquariaten
erworben, die auch in einer christlichen Gemeinschaft nur schwer
zu kontrollieren waren: alte philosophische Bände mit dem
wundervollen braunen Einband der ›Bibliothek der
großen Denker‹ – Bradlaugh, Darwin und
Haeckel, Huxley und Llewellyn Powys, Ingersoll und Paine –
und zerschlissene Taschenbücher von Asimov, Sagan und Gold,
von Joachim Kahl, Russell, Rand, Lofmark, Lamont, Paul Kurtz und
Richard Dawkins. Die gefürchteten Häresiarchen des
säkularen Humanismus. Er hatte sie hinter dem hohen
Bücherregal versteckt gehabt, hinter den Bänden mit
Gebeten und einem tausendseitigen Kommentar zum Vierten Buch
Mose. Doch seine weichen Knie rührten nicht daher, dass sie
die Bücher entdeckt hatten, sondern dass sie ein ganz
bestimmtes lasen: sein Tagebuch.
    Seine Eltern waren gar nicht so alt. Sie hatten jung
geheiratet. Der Bart seines Vaters war durchsetzt mit einzelnen
grauen Haaren; in sein Gesicht hatten sich Falten eingegraben.
Die Augen seiner Mutter waren gerötet. Sie blickten ihm
schweigend entgegen.
    »Ich fühle mich verraten«, sagte seine
Mutter. »Wie konntest du bloß einen solch
abscheulichen, satanischen Schmutz schreiben? Und wir haben dir
immer vertraut …«
    Sie wandte sich ab, lehnte das Gesicht an die Schulter seines
Vaters und schluchzte.
    »Sieh nur, was du deiner armen Mutter angetan
hast.«
    Jordan hatte sich vorgestellt, er würde in diesem so
lange hinausgeschobenen Moment, da seine Eltern erführen,
was er wirklich dachte, Schuldgefühle empfinden. Jetzt, da
sie von selbst dahinter gekommen waren, fühlte er sich
verlegen, das ja – bei der Vorstellung, dass sie sein
Tagebuch gelesen hatten, stieg ihm das Blut in die Wangen
–, doch vor allem verspürte er Zorn. Welch eine Dreistigkeit! Welch eine Unverschämtheit!
    »Habe ich eigentlich keine Privatsphäre?«
    Er entriss ihnen das Tagebuch und klappte es zu. Seine
Hände zitterten, seine Stimme schwankte.
    »Nicht solange du unter meinem Dach wohnst und meiner
Verantwortung unterstehst.«
    Ehe sein Vater zu einer Strafpredigt ansetzen konnte, kam
Jordan ihm zuvor.
    »Eben! Und wenn man mir unter deinem Dach nicht mit
einem Minimum an Anstand begegnet, wenn ich mir nicht sicher sein
kann, dass man mir nicht nachspioniert und in meinen Sachen
wühlt, dann will ich auch gar nicht mehr hier
leben!«
    Sein Vater sprang auf. »Jetzt warte mal! Wir wollen dich
nicht verstoßen. Wir machen uns Sorgen um dich –
fürchterliche Sorgen. Was du da gelesen hast – sogar
was du geschrieben hast – wenn wir darüber reden,
deine Zweifel einem Geistlichen oder Berater vorlegen, dann wirst
du bestimmt einsehen, dass du von diesen verruchten, verlogenen,
rationalistischen Libertariern, deren Lehren und eitle
Täuschungen von christlichen Denkern mehrfach widerlegt
wurden, in die Irre geleitet wurdest.«
    »Nein.«
    Jordan ließ den Blick schweifen. Er hatte das Zimmer so
weit wie möglich nach seinem persönlichen Geschmack
dekoriert: mit Drucken ferner Galaxien und Supernovae
(kreationistische Propaganda), mit Bilder von Primitiven
(Spendenaufrufe zur Unterstützung der Missionsarbeit), mit
Bildern züchtig gekleideter, aber hübscher und durchaus
nicht reizloser Mädchen (Modewerbung). Na schön. Allein
auf die Bücher, die sie aufgehäuft hatten, kam es ihm
an. Er zog einen Rucksack aus einer Ecke hervor, bückte sich
und stopfte die Bücher hinein, dann raffte er wahllos ein
paar Kleidungsstücke zusammen. Die Emotionen werden vom
Denken beherrscht, und wer, wenn nicht du selbst, beherrscht dein
Denken? Epiktet oder vielleicht auch Wayne Dwyer. Egal. Jordan
beherrschte sein Denken.
    »Wende dich nicht von uns ab«, sagte seine Mutter.
»Wende dich nicht von der Wahrheit ab.«
    »Du hältst dich für einen Freidenker«,
höhnte sein Vater, »aber du willst dich

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