Das stille Gold der alten Dame
noch in einigen wenigen Außenbezirken.
Schweigend gingen wir nebeneinander
her. Schon zum zweitenmal spazierte ich mit jemandem,
der wortkarg war und nicht schlafen konnte, durchs nächtliche Paris. War wohl
heute meine Spezialität. Im Park der türkischen Botschaft rauschten die Blätter
der Bäume in dem leicht feuchten Wind. Efeu hing dunkel von der abgeblätterten
Begrenzungsmauer. Auf halber Höhe der Straße beleuchtete eine Laterne das
holprige Pflaster. Die Laterne sah wirklich noch wie ‘ne Laterne aus. Nur der
Glühstrumpf war durch eine Glühbirne ersetzt worden. Daneben stand ein
Grenzstein. Auf einer der in diesem Viertel so geschätzten Tafeln war zu lesen,
daß früher die Seigneurie Passy an die
von Auteuil gegrenzt hatte.
Das Laternenlicht erfaßte unsere Schatten und zog sie vor uns in die Länge, bis sie in die völlige
Dunkelheit eintauchten. Hier also verengt sich die Rue Berton zu einem
Schlauch. Etwas weiter, an einer Biegung, verändert sie erneut Breite und
Aussehen... und Namen: Rue d’Ankara , wegen der
türkischen Botschaft.
Madame Ailot faßte mich am Arm.
„Das ist der Pavillon“, flüsterte sie und
wies auf eine bewachsene Mauer. Schon möglich, daß sich dahinter ein Pavillon
befand. Aber in der Dunkelheit konnte ich nichts sehen.
„Schön“, sagte ich. „Sollen wir
wirklich hineingehen? Sieht ziemlich ruhig aus, da drin.“
Von dem Wind in den Bäumen abgesehen,
war es vollkommen still.
„Sprechen Sie bitte leiser“, flüsterte
sie. Und in derselben Lautstärke fügte sie hinzu: „Ich muß Klarheit haben.“
Sie zog mich zu einer groben Holztür.
Ein abweisendes Guckfensterchen wurde von zwei gekreuzten Eisenstäben
geschützt. Instinktiv faßte meine Hand ans Schlüsselloch und berührte einen
Schlüssel. Einen ziemlich überflüssigen Schlüssel: die Tür stand einen
Spaltbreit offen.
„Sehen Sie!“ flüsterte Madame Ailot
triumphierend und jammernd zugleich. „Sie sind hier! Der Schlüssel...“
„...beweist gar nichts“, unterbrach
ich sie. „Jemand war hier, ist wieder weggegangen und hat vergessen, die Tür
hinter sich abzuschließen. Und jetzt ist kein Mensch mehr da.“
„ Psst ! Psst !“ flehte sie mich an.
Sie schob die Tür auf. Die Angeln
gaben nicht das geringste Quietschen von sich. Wir gingen in den Vorgarten.
„Mit oder ohne Schlüssel, hier ist
niemand“, beharrte ich dickköpfig.
Ein hübsches Paar waren wir! Zwei
beharrliche Dickköpfe.
„ Psst !“
Meine Augen begannen sich an die
Dunkelheit zu gewöhnen. Man hätte zwar keine Zeitung lesen können, aber ich
erkannte Umrisse. Zum Beispiel ein Bassin, so groß wie ‘ne Waschschüssel für
kinderreiche Familien, zwischen Sträuchern und Steinen. Ein ziemlich steiler
Weg führte zu einer Art Landhäuschen mit einem seltsamen Dach. Wie
zusammengerollt lag es da, so belebt wie die Morgue , wenn Dr. Paul und die Angestellten nach Hause
gegangen sind. Genauso hatte ich mir das gedacht. Niemand da. Kein Licht, kein
Ton. Außer Spinnen und Mäusen: Nichts. Noch einmal: Überhaupt niemand. Ich
konnte es gar nicht oft genug wiederholen.
„Ich muß Klarheit haben“, stellte
Madame Ailot wieder fest. „Kommen Sie...“
Sie faßte meine Hand und ließ sie
nicht mehr los. Ihre Handflächen waren feucht.
„Kommen Sie, sehen wir nach.“
Ich folgte ihr, immer auf der Hut.
Denn jetzt wollte sie den dynamischen Detektiv vernaschen. In dieser Baracke
war nämlich niemand, kein Mensch, verdammt nochmal! Nicht ein einziger!
Das Dementi folgte auf dem Fuße, in
doppelter Form: der Schrei einer hysterischen Frau und ein kurzer, scharfer
Knall.
Nackt... wie die Wahrheit
Schuß und Schrei kamen aus dem Innern
der Bruchbude, die so friedlich aussah.
Die Finger meiner Klientin krallten
sich in meine Hand. Ich kämpfte mich frei, zauberte meinen Revolver hervor und
stürzte zum Haus.
Gleich nach den ersten Schritten
stolperte ich über eine Stufe, die wohl für erschöpfte Asthmatiker eingebaut
worden war. Beinahe hätte ich mich auf den Bauch gelegt, aber mit einem Schwall
von entsprechenden Flüchen hielt ich das Gleichgewicht. Mein Gesicht wurde von
den Zweigen eines Busches gestreichelt. Ansonsten erreichte ich ohne
Zwischenfälle die Haustür. Ob sie offenstand, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls
leistete sie meinem Stoß keinen Widerstand. Ein vermischter Gestank von Staub,
stickiger Luft und Feuchtigkeit schlug mir in dem dunklen Flur entgegen.
Die Fenster waren so
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