Das stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li: Innere Übungen zur Stärkung der Lebensenergie (German Edition)
Lust verheißen, im Westen als ungemein verlockend. Vor allem, wenn sich diese Angebote östlich gewürzt und in entsprechender »esoterischer« oder »spiritueller« Gewandung andienen – als »Tantra«, »Tao der Ekstase« oder ähnlich Klangvolles – und damit als etwas »Höheres« erscheinen, sind sie besonders verführerisch.
Tief verwurzelt ist das geheime Schuldgefühl der abendländischen Menschen gegenüber allem Sexuellen, groß auch das Gefühl des Mangels, und alles, was sexuelle Lust aufzuwerten und ihr Raum zu geben scheint, ist verständlicherweise sehr willkommen. Es ist allerdings ein Trugschluss zu glauben, man könne einer tief in eine Kultur eingewobenen Grundhaltung sexueller Negativität und Barbarei mit vordergründigen Methoden beikommen. Die »wechselseitige Kultivierung« der taoistischen Inneren Alchimie war Teil eines umfassenden geistigen Systems, dessen Ziel ja nicht »besserer Sex«, schuldfreie Lust und ekstatisch gesteigertes Vergnügen war, sondern die unter Einsatz aller Kräfte und mit großer Disziplin angestrebte Verwandlung des menschlichen Potenzials zum verwirklichten Menschen (im tantrischen Buddhismus wird dieses Ziel als »die Vereinigung von Seligkeit und Leere« beschrieben – womit eine nichtbedingte Seligkeit gemeint ist).
Für die originale taoistische Haltung gilt, was Herbert V. Guenther über den buddhistischen Tantrismus sagt, den man in dieser Hinsicht mit dem Taoismus vergleichen kann:
Sicherlich steht der Tantrismus nicht aufseiten der Askese, aber es wäre falsch, daraus zu schließen, dass er unbedingt die Zügellosigkeit verteidigt und dass sein Reiz auf den abendländischen Menschen, der in einer frauenfeindlichen, der Freude und dem Leben abgeneigten Atmosphäre erzogen ist, auf der Anerkennung der Frau und des Sexus beruht, folglich auch als moralische Rechtfertigung für den Zwang des Sexus dienen kann. Der Tantrismus hält tatsächlich Freude für wertvoll und lebensbejahend, aber hierin liegt viel mehr als Vergnügen … Erleuchtung ist der Name für eine veränderte Sicht, und der Tantrismus ist der praktische Weg, auf dem sich die Wandlung vollzieht. Das bedeutet nicht, dass in der veränderten Sicht etwas erblickt wird, was andere nicht sehen können, sondern dass Dinge, vor allem Menschen, in einem anderen Licht gesehen werden. [138]
Shui Ch’ing Tzu zitiert die »sieben Emotionen und die sieben Schädigungen« (eine Erweiterung der klassischen medizinischen Zuordnungen) sowie die »zehn Schwächungen« [139] , die auch auf Liebe und Sexualität eingehen:
Die sieben Emotionen sind folgende: Glück, Wut, Traurigkeit, Angst, Liebe, Begierde, Grausamkeit:
Zu viel Glück schädigt das Herz.
Zu viel Wut schädigt die Leber.
Zu viel Traurigkeit schädigt die Lungen.
Zu viel Angst schädigt die Gallenblase.
Zu viel Liebe schädigt den Verstand.
Zu viel Begierde schädigt den Geist.
Grausamkeit schädigt die Empfindsamkeit.
Es gibt auch die zehn Schwächungen:
Wenn man zu viel läuft, werden die Sehnen geschwächt.
Wenn man zu viel steht, werden die Knochen geschwächt.
Wenn man zu viel sitzt, wird das Blut geschwächt.
Wenn man zu viel schläft, werden die Meridiane geschwächt.
Wenn man zu viel hört, wird die Zeugungskraft geschwächt.
Wenn man zu viel sieht, wird der Geist geschwächt.
Wenn man zu viel spricht, wird die vitale Energie geschwächt.
Wenn man zu viel isst, wird das Herz geschwächt.
Wenn man zu viel denkt, wird die Milz geschwächt.
Wenn man zu viel Sex betreibt, wird die Zeugungskraft zerstreut.
Methoden der sexuellen Energiearbeit werden im Westen gern als ekstasesteigernd proklamiert (»Dort treten Sie in einen neuen Bereich der Ekstase ein« [140] , »Tantra oder die Kunst der sexuellen Ekstase« [141] ) und kommen damit dem Mangelgefühl vieler westlicher Menschen entgegen. Das Missverständnis liegt darin, zu glauben, Mangelmentalität (im Buddhismus spricht man vom psychischen Bereich der »Hungergeister«) ließe sich durch ein »Mehr« beseitigen. Doch verhindert dies die Verwandlung eher, als dass es sie unterstützt. Deshalb setzt Meister Ge Hong »die volle Einsicht in die Tiefe des Tao« und »Wahrhaftigkeit« voraus. Ge Hong, der die »wechselseitige Kultivierung« als einen Aspekt des großen Ganzen verstand, äußerte seine Warnungen zudem innerhalb einer Gesellschaft, die weit weniger von kollektiven sexualneurotischen Mustern der Vergangenheit (und Gegenwart) belastet war, als
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