Das Stockholm Oktavo
Angst. Kein Wunder. Leere Räume und leere Taschen sind nichts im Vergleich zu dem, was kommen wird, wenn die Monarchie stürzt.« Madame Sparv goss sich Wasser ein. »Sie wundern sich über meine glühende Leidenschaft für die Monarchie, Emil, aber ich wurde in sie hineingeboren.« Sie nahm einen ausgiebigen Schluck. »Unser Familienname war eigentlich
Roitelet
, das bedeutet ›Zaunkönig‹. Der Zaunkönig gilt als der König der Vögel, als kleiner König. Es hätte mir gefallen, wenn mein Name hier in Schweden auch Königsvogel gewesen wäre, aber ein schlampiger Beamter hat ihn falsch übersetzt, als wir aus Frankreich kamen, und so wurden wir Sparv, Sperling. In meinem Herzen werde ich jedoch immer Zaunkönig bleiben.« Sie schloss die Augen. »Mein Vater glaubte an die Monarchie, mehr noch als an die Kirche, und er gab dieses Credo an mich weiter. Er sagte, alles Gute dieser Erde sei von zwei Königen gekommen – von Ludwig XVI . und Gustav III ., von Sonne und Polaris, den Leitsternen unserer Welt. Gustavs zwanzigjährige Herrschaft hat eine Blüte gebracht, die ihresgleichen nicht mehr haben wird. Er hat es verdient, seine Visionen verwirklicht zu sehen, und sein Vermächtnis darf nicht der Fall des großen Hauses Wasa sein. Und mein Vermächtnis darf nicht die Scharlatanerie sein.« Sie schlug die Augen wieder auf, nahm die Karte, die zwischen uns lag, und drehte sie bedächtig in der Hand. »Gustav hat versprochen, mich immer zu beschützen, aber neuerdings scheint er das vergessen zu haben. Ich muss ihn daran erinnern, dass es Unglück bringt, einem Zaunkönig Schaden zuzufügen. Sie wissen das, nicht wahr? Das Pech folgt auf dem Fuße. Jeder weiß, dass ein Zaunkönig am Stefanstag Glück fürs neue Jahr bringt.«
»Aber am Stefanstag ziehen die Buben los und töten den Zaunkönig, sie tragen ihn aufgepfählt und mit ausgebreiteten Flügeln von Haus zu Haus. Der König wird dem Gemeinwohl geopfert.«
»Das ändert sich mit dem Stockholm Oktavo. Wir werden in diesem neuen Jahr den Zaunkönig
und
den König am Leben lassen.«
Ich trank meinen Weinbrand in einem langen Zug aus. Ich sah einen Käfig, schlimmer noch, ein Irrenhaus für den Zaunkönig. Aber Madame Sparv schien mein Schweigen gar nicht zu bemerken. Vielmehr stand sie auf, nahm eine Kerze und bedeutete mir, ihr in den großen Salon zu folgen. Sie zündete eine verspiegelte Wandleuchte gegenüber einer Anrichte an, sie war mit schwerem Damast bedeckt, der bis auf den Boden reichte. Mit einer ausladenden Armbewegung zog sie den Stoff weg und enthüllte einen Sekretär mit Eichen- und Ahorn-Intarsien und einer Marmorplatte. Dann nahm sie den Schlüssel von der Kette an ihrem Hals und schloss die unterste Schublade auf. Ich spähte hinein und sah ordentlich gefaltete Wäsche – und darunter: »So viel Geld!«
Madame Sparv hob mein Kinn an und schob ihr Gesicht vor meines, ihre Augen funkelten wie die Münzen in der Schublade. »Ja. Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet und will es in Sicherheit wissen. Sobald Gustav zur Ratssitzung aufgebrochen ist, werden die Patrioten die Stadt auseinandernehmen. Sie werden jeden Verbündeten des Königs jagen, sogar einen kleinen Vogel.«
»Aber Sie können nicht auf beiden Seiten spielen«, sagte ich. »Bitten Sie Herzog Karl um Schutz!«
»Herzog Karl würde mich pfählen, wenn es seine Krönung beschleunigen würde.« Sie zog einen Stuhl an den Sekretär und holte die Wäsche, die in Wahrheit Zugbeutel waren, aus der Schublade. Sie setzte sich und fing an, einen Beutel zu füllen. »Wollen Sie mir nun helfen oder nicht?«
Über ein Dutzend volle Beutel – ein Vermögen in Münzen und Devisen – wanderte in eine Truhe, die wir aus einer Luke im hinteren Salon zogen. Madame Sparv legte einen dicken, pelzverbrämten Reisemantel darauf und schloss den Deckel ab.
»Was soll ich mit all dem Geld machen?«, fragte ich.
»Kommen Sie, Emil, Sie haben doch nicht gedacht, dass Sie es behalten sollen! Es ist schon viel, dass Sie Kassiopeia bei sich aufbewahren.« Sie schloss die leere Schublade und legte den Damast wieder auf den Sekretär. »Über kurz oder lang werden auch Sie verhört werden. Ihre Wohnung ist nicht sicherer als mein Haus.«
»Verhört? Aus welchem Grund?«
»Sie sind mein Freund. Und dann ist da noch die Sache mit dem Fächer.«
»Niemand weiß davon«, sagte ich, dachte aber an die Schnüfflerin Murbeck. »Oder etwa doch?«
Sie sah mich durchdringend an. »Kassiopeia weiß
Weitere Kostenlose Bücher