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Das Stockholm Oktavo

Das Stockholm Oktavo

Titel: Das Stockholm Oktavo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Engelmann
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dürfen, für gewöhnlich wenn ein einsamer, schüchterner Kunde wünschte, einen anderen Normalsterblichen an seiner Seite zu haben. Bis auf eine Sitzung fand ich alle unseriös. Doch jenes eine Mal hatte Madame Sparv erklärt, sie habe eine Vision, und uns gebeten, sie nicht anzusehen. Ich machte meine Augen fest zu, doch ich spürte solch eine Energie in diesem Raum und eine solche Feierlichkeit in ihrer Stimme, dass ich vor Aufregung Gänsehaut bekam. Eine gewisse Dame N. wurde in den markerschütterndsten biblischen Worten über ihr Schicksal aufgeklärt. Als die Dame das Zimmer verließ, war sie blass und zitterte, und sie kam nie wieder. Ich redete mir ein, alles sei Theater gewesen, doch kurz darauf wurden die düsteren Prophezeiungen wahr. Daraufhin zeigte ich mich bezüglich Madame Sparvs Gabe wachsamer – und war weniger geneigt, an ihren Sitzungen teilzunehmen. Eine Vision von Liebe und Verbundenheit war jedoch ein unleugbar gutes Omen. »Was genau haben Sie in Ihrer Vision gesehen?«, fragte ich.
    »Sie, Herr Larsson. Die Vision hatte ich heute Nachmittag.« Sie nahm einen Schluck Wasser aus einem Glas von der Anrichte. »Ich weiß nie, wann eine Vision kommt, aber nach all den Jahren kenne ich die Hinweise, die sie ankündigen. Ich habe dann einen merkwürdigen metallischen Geschmack im Rachen, der wie eine Schlange meine Zunge hinaufkriecht.«
    Wir setzten uns an den Tisch, sie legte die Hände flach auf ihre Schenkel, schloss kurz die Augen, schlug sie dann wieder auf und lächelte. »Ich sah eine Weite aus glitzerndem Gold wie Münzen, die zu einer himmlischen Musik tanzten. Dann verschmolzen alle miteinander und bildeten einen goldenen Weg. Und auf diesem Weg wanderten Sie.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Sie haben Glück, Herr Larsson – Liebe und Verbundenheit kommen nur zu wenigen.«
    Ich verspürte diese angenehme Spannung, die mit der Übereinstimmung von Fragen und Antworten einhergeht, und erzählte ihr von dem Dekret meines Vorgesetzten: dass ich ein achtbarer Ehemann werden müsste, um meinen Posten beim Amt zu behalten.
    »Dann war diese Vision kein Zufall«, sagte sie.
    »Und dennoch steht mir nicht der Sinn nach einer ernsthaften Bindung.«
    Sie langte über den Tisch hinweg und legte ihre Hand auf meine. »Man kann sie schwerlich vermeiden. Menschen treten in unser Leben, ohne dass wir sie darum gebeten hätten, und sie bleiben, ohne eingeladen zu sein. Sie übermitteln uns Erkenntnisse, die wir nicht erbeten haben, und schenken uns Dinge, die wir nicht wollen. Dennoch brauchen wir sie.« Sie beugte sich zu einer schmalen Schublade unter der Tischplatte hinunter und zog ein Kartendeck sowie ein zusammengerolltes Musselin-Tuch hervor. »Diese Karten benutze ich für die höchste Form der Weissagung, das Oktavo. Da Sie in meiner Vision so deutlich in Erscheinung traten, möchte ich diese Legetechnik bei Ihnen anwenden.«
    Sie mischte ausführlich, hob drei Stapel ab und legte sie wieder aufeinander. Ich frage Madame Sparv, warum sie Karten brauchte – ihre Vision sei doch sicherlich ausreichend. Mit einer einzigen Bewegung kippte sie den Stapel und fächerte die Karten in einem weiten Bogen auf dem Tisch auf.
    »Karten sind geerdet, aber sie sprechen die Sprache des Unbekannten. Sie dienen mir als Übersetzer und Führer und können uns zeigen, wie man eine Vision wahr macht.« Sie beugte sich zu mir vor und flüsterte: »In meinem eigenen Leben und während meiner Sitzungen begann ich Muster zu sehen, die die Zahl Acht beinhalteten. Ich gelangte zu der Überzeugung, dass wir von Zahlen regiert werden, Herr Larsson. Ich glaube nicht, dass Gott ein Vater ist, sondern dass Er eine unendliche Zahl ist, und die drückt sich am besten in der Acht aus. Die Acht ist das alte Symbol der Ewigkeit. Liegend ist sie das Zeichen, das Mathematiker Lemniskate nennen. Stehend ist sie ein Mensch, dessen Schicksal es ist, wiederum in die Unendlichkeit zu fallen. Mathematisch wird diese Philosophie ›Göttliche Geometrie‹ genannt.«
    Sie entrollte das Tuch. In der Mitte war ein rotes Quadrat dargestellt, umgeben von acht exakt spielkartengroßen Rechtecken, die ein Oktogon bildeten. Das Quadrat und die Rechtecke waren nummeriert und benannt. Über diesem Diagramm waren hauchdünne geometrische Formen, Kreise und Linien gezogen. Madame Sparv fuhr mit dem Zeigefinger das zentrale Quadrat und den mittleren Kreis nach. »Der mittlere Kreis ist der Himmel, das Quadrat darin die Erde. Geteilt

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