Das Stonehenge - Ritual
und viele andere geben ihr Leben hin, um die Geheiligten zu schützen und ihre Energie zu erneuern.«
Der Meister lächelt dünn. »Nicht ganz korrekt, aber nahe dran.« Er will in Erfahrung bringen, was Nathaniels Junge noch alles weiß. »Hast du eine Ahnung, wie die spirituelle Energie der Geheiligten erhalten wird?«
»Durch Menschenopfer. Welche sowohl vor als auch nach der Sommer- und Wintersonnenwende dargebracht werden. In bestimmten Mondphasen. Mein Vater bezeichnete diese Opfer als notwendig für die Wiederherstellung des himmlischen und irdischen Gleichgewichts.«
Der Meister wirkt beeindruckt. »Du bist ein gelehriger Schüler. Doch zwischen Theorie und Praxis liegt ein großer Unterschied.« Er verschränkt die braun gewandeten Arme. »Du hast dich an uns gewandt, Gideon. Was willst du?«
»Ich will von euch aufgenommen werden. Meine Mutter und mein Vater sind tot. Jetzt seid ihr meine Familie. Ich bin schon jetzt ein Sohn der Geheiligten. Ihr wisst, welcher Art von Taufe mich mein Vater als Kind unterzogen hat.«
Der Meister nickt. »In der Tat. Er hat dich in Wasser gebadet, das von den Geheiligten stammte, und sie gebeten, dich vor der Krankheit zu schützen, an der deine Mutter gestorben war. Er hat ihnen sein eigenes Leben versprochen, wenn sie dafür dir ein langes und gesundes bescheren würden.«
Gideon bekommt feuchte Augen. Wieder muss er an die Worte seines Vaters denken:
Gerne bin ich bereit, mein eigenes Blut hinzugeben, mein eigenes Leben. Ich hoffe nur, dass ich mich der Aufgabe würdig erweisen werde. Würdig genug, um etwas zu verändern – das Schicksal zu ändern, das, wie ich weiß, meinen armen, mutterlosen Sohn erwartet
.
Der Meister erhebt sich von seinem Platz und geht in der Kammer auf und ab. »Die Geheiligten sind keine Ungeheuer. Sie verlangen keine beliebigen Menschenopfer. Es ist eine elementare Frage von Geben und Nehmen, ein Teil des Kreislaufs von Leben und Tod. Im Gegenzug dafür, dass die Geheiligten dein Leben schützten, versprach Nathaniel ihnen das seine. Er stellte sich als zukünftiges Opfer zur Verfügung.«
Gideon versteht nicht recht, wie er das meint. »Daher der Selbstmord?«
»Nein. Das war kein Opfer, sondern ein selbstsüchtiger Akt der Verzweiflung. Er wollte den Inneren Kreis dazu zwingen, von einem Kurs abzuweichen, den er nicht guthieß.«
»Was für einen Kurs?«
Der Meister stößt müde die Luft aus. »Dein Vater betrieb eingehende Studien und war der festen Überzeugung, die unveränderliche Doktrin der Zunft besage, dass diejenigen, welche die Gaben der Geheiligten empfingen, auch die Auserwählten seien – diejenigen, die geopfert werden sollten. Er argumentierte, dass jeder, der aus dem göttlichen Brunnen geschöpft und ein Leben in Fülle geführt habe, in späteren Jahren den göttlichen Preis dafür zahlen solle. Die Mitglieder des Inneren Kreises waren nicht dieser Auffassung. Sie vertraten die Meinung, die alten Praktiken müssten sich weiterentwickeln. Die Geheiligten sollten sich ihre Opfer selbst aussuchen.«
»Wie das?«
»Ganz einfach.« Der Meister breitet mit einer entspannten Geste die Arme aus. »Die Menschen fühlen sich von ihnen angezogen. Es ist Aufgabe unserer Späher – zu denen auch die Männer gehören, die dich hierhergebracht haben –, am Steinkreis zu warten und Ausschau zu halten. Wenn sich Leute dazu genötigt fühlen, einen bestimmten Geheiligten zu berühren, der im siderischen Tierkreis gerade am Aufsteigen ist, dann geben sie sich dadurch als die geeigneten Opfer zu erkennen.«
Der Meister lässt sich neben Gideon auf der Steinbank nieder. Das, was er als Nächstes sagen will, wird den Jungen erschrecken, möglicherweise sogar bis ins Mark erschüttern. »Die Zunft ist eine demokratische Organisation. Wir befolgen Regeln, die bereits vor Jahrhunderten festgelegt wurden. Die Interpretation dieser Regeln aber ist das Recht und die Pflicht des jeweils amtierendes Meisters und seines Inneren Kreises. Als dein Vater den Entschluss fasste, sich der Auffassung des Kreises hinsichtlich der Opfer zu widersetzen, besiegelte er damit im Grunde sein eigenes Schicksal.«
Gideon starrt ihn verwirrt an. »Das verstehe ich jetzt nicht. Warum war die Meinung meines Vaters verglichen mit der aller anderen denn so wichtig?«
Dem Meister wird klar, dass Nathaniel dem Jungen keineswegs alles verraten hat. »Weil zu dem Zeitpunkt, als über die Angelegenheit abgestimmt wurde, nicht ich der Henge-Meister war, mein
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