Das Stonehenge - Ritual
für ihn zu tätigen. Oder er hat noch ein anderes Telefon. Eines, das weder über seine Privatadresse noch über seine Firma läuft.
Megan ist sicher, dass er über ein anonymes Pre-paid-Handy verfügt. Ein Telefon ohne Vertrag, das sich nicht mit seinem Besitzer in Verbindung bringen lässt.
Wozu sollte ein millionenschwerer Geschäftsmann solch ein zusätzliches Telefon brauchen, wenn er doch schon ein luxuriöses iPhone hat? Lächelnd lehnt Megan sich zurück.
Weil er etwas zu verbergen hat. Das ist der Grund.
99
Im letzten Abendlicht steuert Gideon auf die Steine zu. Krampfhaft versucht er sich ins Gedächtnis zu rufen, wann er das letzte Mal in Stonehenge war. Wahrscheinlich vor zwanzig Jahren, kurz nachdem er krank geworden war.
Er trägt die Asche seines Vaters in einer Streubox mit sich, die er extra für diesen Zweck ausgesucht hat, und ist sehr trauriger und wehmütiger Stimmung. Während er den Blick über das Feld und die ersten Nebelschwaden schweifen lässt, muss er daran denken, wie sein Vater ihn damals an die Hand genommen und über die nebligen Wiesen zu den riesigen Steinen geführt hatte.
Selbst zwei Jahrzehnte später spürt er noch ein Echo seiner damaligen Angst – einen Widerhall der Furcht, die er empfunden hatte, als er mit seinen acht Jahren für ein paar Augenblicke allein zwischen den Riesen stand. Es war ihm vorgekommen wie einen Ewigkeit. Die schattenhaften Geister schienen – hoch wie Bäume – immer näher zu rücken. Als wollten sie ihn zwischen sich einschließen und mit knorrigen Händen nach ihm greifen.
Gideon kann sich noch genau erinnern. Sein Vater hatte an jenem Tag seltsame Reden geschwungen. Darüber, dass es im Leben Dinge gebe, die er vielleicht nicht ganz verstehen werde, aber trotzdem respektieren solle. Wie zum Beispiel den Mond. Eine Gottheit, die über ihn wache. Eine mächtige Kraft, verbunden mit seinen unbewussten Fähigkeiten und dem zyklischen Rhythmus des Lebens – menschlicher Fruchtbarkeit, dem Wachstum der Feldfrüchte, dem Wechsel der Jahreszeiten. Er war damals tatsächlich noch zu jung, um all das zu verstehen.
Als Gideon nun zu den großen Sarsen und Blausteinen hinüberblickt, sieht er seinen Vater wie damals im Zentrum des Kreises stehen und eine Hand an einen der Steine legen, während er die andere nach seinem Sohn ausstreckt und ihm erklärt, in diesem Felsblock liege die Seele des Universums begraben, geschützt und bewahrt für alle Zeit.
Obwohl es Gideon damals widerstrebt hatte, die Hand seines Vaters zu ergreifen, hatte er es getan. Eine beängstigende Erfahrung. Als würde eine Ladung Elektrizität durch zwei Punkte schwappen. Eine knisternde, funkenschlagende Energie, die sie miteinander verband. Dann führte sein Vater ihn im Kreis herum. Ließ ihn all die Steine berühren. Drückte ihn an sie und hielt ihn dort fest, während der Strom zwischen Stein und Fleisch hin- und herpulsierte.
»Guten Abend.«
Die Stimme lässt ihn zusammenfahren. Eine Stimme aus dem Nichts. Schnell dreht er sich um.
Es ist sein Vater.
Für den Bruchteil einer Sekunde ist er fest davon überzeugt. Sein Herz schlägt wie wild. Keuchend schnappt er nach Luft. Der Mann, der vor ihm steht, hat die gleiche Größe und Statur wie sein Vater und dürfte auch im gleichen Alter sein. Im abendlichen Nebel ist die Ähnlichkeit fast beängstigend.
Der alte Mann lächelt. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Bitte entschuldigen Sie.«
»Das macht doch nichts. Ich war nur ganz in Gedanken.«
Der Fremde tritt näher. Er wirkt nun größer und breiter, als es für Gideon zunächst den Anschein hatte. Er hat grau-weiß meliertes Haar. Der Blick seiner dunklen Augen ist durchdringend. »Sie sollten eigentlich gar nicht hier sein. Privatpersonen haben nur nach Terminvereinbarung Zutritt. Sie müssen sich vorher anmelden.«
»Das wusste ich nicht. Tut mir leid.« Gideon sieht zum Parkplatz hinüber.
»Ist schon gut. Ich habe kein Problem damit. Was tragen Sie denn da mit sich herum?« Der Fremde nickt in Richtung der Box.
»Die Asche meines Vaters. Es war sein letzter Wunsch, dass sie hier zwischen den Steinen verstreut wird.«
Der Mann deutet auf den Kreis. »Dann hat ihm dieser Ort wohl sehr viel bedeutet?«
»Ja.« Gideon betrachtet die nichtssagende Box. »Er war Archäologe und hat diese Steine eingehend studiert. Für ihn waren es magische Steine. Vielleicht sogar heilige.«
Der Fremde lächelt. »Viele Menschen sind dieser Meinung. Deswegen kommen
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