Das Stonehenge - Ritual
lieber Gideon. Sondern er.«
102
Caitlyns Schreie dringen wie ein Hochgeschwindigkeitsbohrer durch die dicke Steinwand. Sie kann nicht mehr. Die Schwärze und die Stille treiben sie in den Wahnsinn. Sie schlägt mit den Fäusten, den Knien und auch mit dem Kopf gegen die rauen Wände des vertikalen Grabs.
Die zwei Späher, die zu ihrer Bewachung abgestellt sind, eilen zu der Nische, in der sie festgehalten wird. Die Männer können nicht zulassen, dass sie sich etwas antut. Sie darf nicht sterben, ehe es an der Zeit ist. Die beiden lösen die Verriegelung, so dass die Steinwand zur Seite gleitet und Caitlyn herauspurzelt, wobei sie eine schmerzhafte Landung auf den Knien hinlegt. Ihr Körper ist von Platzwunden übersät, ihr langes schwarzes Haar verfilzt – getränkt von Schweiß und Blut. Sie fletscht die Zähne und tritt nach den Männern. »Lasst mich in Ruhe. Ihr verdammten Mistkerle, lasst mich
los
!«
Die Späher drehen sie auf den Rücken und halten sie fest. Ihr Gesicht ist voller Blut, und von ihren manikürten Fingern hängen Hautfetzen. An ihrer Stirn klaffen mehrere Platzwunden. Die Männer sehen sich an. Die junge Frau ist in ihrer Zelle Amok gelaufen. In einem Tobsuchtsanfall hat sie wie wild um sich geschlagen und versucht, sich umzubringen, indem sie den Kopf immer wieder gegen die Steine knallte.
Caitlyn möchte, dass dieses Grauen ein Ende hat. Selbst wenn das bedeutet, dass sie sterben muss, möchte sie dennoch, dass es aufhört. Allmählich aber beruhigt sie sich. Ihr Verstand übernimmt wieder die Führung, das wilde Tier in ihr kommt zur Ruhe. Die Männer drücken sie immer noch auf den kalten Steinboden. Einer sitzt mehr oder weniger auf ihr und fixiert mit seinen Knien ihre Oberarme, während er mit den Händen ihre Gelenke umklammert. Der zweite Mann kniet über ihren Knöcheln. Erst jetzt, da das Blut nicht mehr ganz so laut durch ihre Ohren rauscht, dämmert es ihr.
Es sind Amateure.
Sie hat gesehen, wie Eric und sein Team jemanden zum Stillhalten bringen. Sie gehen dabei ganz anders vor. Ein verdrehtes Handgelenk reicht aus, um jemanden außer Gefecht zu setzen, wenn man weiß, wie es geht. Mit einem einzigen Finger, fest in einen Schmerzpunkt gedrückt, kann man einen Schwergewichtsboxer stoppen – wenn man weiß, wie es geht. Diese Kerle hier wissen es nicht. Sie improvisieren nach Bedarf.
Caitlyn starrt in die Augen des Kapuzenmannes, der sie mit seinem Gewicht fixiert. »Ich bin wieder okay.« Vorsichtig lässt er sie los und steht auf, bereit, sich notfalls sofort wieder auf sie zu werfen. »Wir müssen uns ihre Kopfverletzungen genauer ansehen«, wendet er sich an den jüngeren Mann.
Die beiden helfen ihr auf und sind gerade im Begriff, ihr Handschellen anzulegen, als Caitlyn die Hände zurückreißt. Mit voller Wucht rammt sie dem vor ihr stehenden Mann ein Knie zwischen die Beine. Der zweite Späher packt sie von hinten. Sie lässt sich gegen ihn fallen. Unter Einsatz ihres ganzen Körpergewichts bringt sie ihn aus dem Gleichgewicht, so dass er gegen die Felswand taumelt. Als sein Rücken auf den Stein trifft, knallt sie ihm den Hinterkopf ins Gesicht, wobei sie es ganz bewusst darauf anlegt, möglichst viel Schaden anzurichten. Sie hört ein scheußliches Knacken. Er lässt sie los und fasst sich stöhnend ins Gesicht. Seine Nase ist gebrochen. Caitlyn steht auf dem von Fackeln beleuchteten Gang des Heiligtums. Niemand hält sie mehr fest.
103
Gideon empfindet eine schwindelerregende Leere. Die Erkenntnis, dass sein Vater einmal Henge-Meister war, trifft ihn wie ein Schlag. Damit hat er nicht gerechnet. Ihm war es um die Wahrheit gegangen. Er hatte nach einem Grund für den Selbstmord seines Vaters gesucht, nach einem Schuldigen. Auf
diese
Wahrheit war er nicht vorbereitet gewesen.
Den Henge-Meister kümmern Gideons Gefühle nicht. Ihm geht es nur darum, wie viel Gideon weiß. Wie groß die Bedrohung ist, die er darstellt. »Hast du eine Ahnung, wo du dich hier befindest?«
»Im Heiligtum.« Gideons Stimme klingt ausdruckslos. Er ist in Gedanken anderswo.
»Weißt du auch, wo es liegt?«
Das ist eine schwierigere Frage – eine, die Gideon aus seinem Schockzustand reißt. »Mein Vater hat nur beschrieben, worum es sich bei diesem Heiligtum handelt, aber nicht, wo es sich befindet. Wobei ich noch nicht alle seine Tagebücher entschlüsselt habe. Ich nehme an, dass ich noch auf Stellen stoßen werde, in denen er genauere Angaben dazu macht.«
Der Meister
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