Das Stonehenge - Ritual
Lebens.
Der gesamte Inhalt der Regale war für seinen Vater wichtig gewesen. Zumindest wichtig genug, um all diese Dinge zu klassifizieren und zu schützen, indem er sie versteckte. Noch viel mehr aber bedeutete ihm diese kostbare Erinnerung an die einzige Frau, die er je wirklich geliebt hatte.
Gideon geht zu den Büchern hinüber. Es handelt sich um lauter rote, in Leder gebundene, unlinierte Tagebücher, wie sie von Künstlern und Schriftstellern bevorzugt werden. Er versucht einen Band aus der oberen linken Ecke zu ziehen, aber der Umschlag klebt an dem seines Nachbarn. Vorsichtig löst er die beiden voneinander.
Als er die erste Seite des Buches aufschlägt, erwartet ihn der nächste emotionale Schock: Das Datum ist das des achtzehnten Geburtstags seines Vaters.
Die Handschrift ist dieselbe, wirkt aber etwas zögerlicher:
Mein Name ist Nathaniel Chase, und heute ist mein achtzehnter Geburtstag, der Tag meiner Volljährigkeit. Ich habe mir geschworen, von diesem Moment an gewissenhaft Buch zu führen über das, was sich hoffentlich zu einem langen, ereignisreichen, glücklichen und erfolgreichen Leben entwickeln wird. Ich werde das Gute und das Schlechte aufzeichnen, das Ehrenwerte und das Unehrenhafte – die Dinge, die mich in der Seele rühren, und auch die, die mich kaltlassen. Meine Tutoren meinen, aus der Geschichte lasse sich viel lernen. Deswegen werde ich vielleicht im Lauf der Jahre viel über mich selbst lernen, indem ich ehrlich über die ins Land ziehenden Jahre Buch führe. Sollte ich eines Tages Berühmtheit erlangen, werde ich diese kleinen literarischen Versuche bestimmt veröffentlichen, und sollte ich ein Niemand bleiben, wird es mir in den Jahren meines Winters zumindest ein wenig das Herz erwärmen, zurückzublicken und mich noch einmal im heißen Optimismus meiner Jugend zu spiegeln. Ich bin achtzehn. Ein großes Abenteuer erwartet mich.
Gideon bringt es nicht fertig weiterzulesen. Stattdessen lässt er den Blick über die Bücherreihen schweifen. Ist es das, was sie enthalten? Ist jedes Ereignis, jede Gefühlsregung, jedes noch so kleine Detail von Nathaniel Chases großem Abenteuer darin verzeichnet?
Er streicht mit einem Finger über die roten Rücken und zählt die Jahre. Der zwanzigste Geburtstag seines Vaters, der einundzwanzigste, der sechsundzwanzigste – das Jahr, in dem er seine Frau kennenlernte. Sein achtundzwanzigster Geburtstag – damals war er so alt geworden, wie Gideon jetzt ist. Sein dreißigster – das Jahr, in dem Nathaniel Gregory Chase und Marie Isabel Pritchard in Cambridge heirateten. Und schließlich sein zweiunddreißigster – als Gideon zur Welt kam.
Die nervösen Finger kommen zum Stillstand. Er hat seine eigene Zeit erreicht. Sein Blick gleitet zum achtunddreißigsten Jahr. Dem Jahr, in dem seine Mutter Marie starb. Er greift nach dem schmalen Band und versucht ihn vorsichtig aus dem festen Griff seiner beiden Nachbarn zu lösen, bringt es dann aber doch nicht fertig, ihn herauszuziehen. Stattdessen überspringt er ein Jahr und entscheidet sich für das vierzigste Lebensjahr seines Vaters.
Er zieht das Tagebuch langsam heraus. Der Tod seiner Mutter liegt nun bereits zwei Jahre zurück. Er fühlt sich bereit für alles, was das achte Jahre seines eigenen Lebens zu bieten haben mag.
Aber wie sich herausstellt, ist er doch nicht bereit dafür.
Der Text ist nicht auf Englisch geschrieben. Er ist überhaupt nicht in irgendeiner erkennbaren Sprache geschrieben.
Es handelt sich um einen Kode.
Gideon zieht das nächste Jahrbuch heraus.
Kode.
Er eilt ans Ende des Raumes und bückt sich nach dem letzten Band. Wieder erstarrt er. In diesem Buch erwarten ihn die letzten Einträge in Nathaniel Chases Leben.
Sein Herz rast in seiner Brust wie ein Uhrwerk, das außer Kontrolle geraten ist. Er schluckt einmal, zieht den Band aus seinem Regalfach und schlägt ihn auf.
20
Soho, London
Sie riecht wie Zimt. Und sie ist völlig high.
Beides registriert Jake Timberland, als ihm die schöne Amerikanerin, die höchstens zweiundzwanzig ist, auf dem Gehsteig einen Abschiedskuss gibt – und zwar einen richtigen, nicht nur ein Küsschen auf die Wange. Sie hält sein Gesicht zwischen ihren schön manikürten Fingern und streicht mit den Lippen sanft über die seinen. Trotzdem überlässt er ihr die Initiative.
Und sie ergreift sie tatsächlich. Es ist nur ein Hauch von Zunge, eine kleine Berührung an der Unterseite seiner Oberlippe. Seine Augen zucken unter
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