Das Stonehenge - Ritual
Seine Augen bleiben auch dann noch verbunden, als man ihn entkleidet und wäscht. Nackt wird er in das Große Gewölbe geführt. Es handelt sich in der Tat um einen großen Raum – eine Art gigantisches Gewölbe mit einer Grundfläche von mehr als hundert Quadratmeter. Dieses Gewölbe ist so hoch, dass man in dem dämmrigen Licht die Decke nicht sehen kann. Wie ein schwarzer Schleier hängt sie irgendwo über ihnen. Die kühle Luft ist erfüllt vom Geruch Hunderter brennender Kerzen. Seine Angst und seine Blöße schärfen seine Sinne. Die Steinblöcke unter seinen Füßen fühlen sich so hart und kalt an wie Eis.
Der Henge-Meister hebt einen Hammer hoch, ein Symbol für die Zunft der Alten, die sowohl die Ruhestätte der Geheiligten als auch das Heiligtum schufen. Während sein Blick über die Versammlung schweift, lässt er den Hammer herabsausen, woraufhin ein riesiger Marmorblock vor den einzigen Eingang gezogen wird und somit die Kammer verschließt.
»Die Augen des Kindes mögen geöffnet werden.«
Die Augenbinde wird entfernt. Der Initiationsritus hat begonnen.
Lees Herz hämmert. Er befindet sich in einem kreisrunden Raum. Blinzelnd erkennt er vor sich eine lebensgroße Replik von Stonehenge. Der Steinkreis ist vollständig und wirkt so vollkommen wie am Tag seiner Fertigstellung. In seiner Mitte steht eine Gestalt, die einen Kapuzenumhang trägt. Das Gesicht liegt im Schatten und ist nicht zu erkennen.
Der Henge-Meister spricht: »Siehe die Verkörperung der Geheiligten! Vor Jahrhunderten ruhten hier die Gottheiten, während unsere Vorfahren, die Gründerjünger, diesen kosmischen Kreis und sein Heiligtum errichteten. Hier in diesem Raum befindest du dich in ihrer Gegenwart. Aus Respekt vor ihnen wirst du, wenn du erst einmal eingeweiht bist, dafür sorgen, dass dein Kopf stets bedeckt ist, und dein Blick auf den Boden gerichtet. Hast du mich verstanden?«
Er weiß, was er zu antworten hat: »Ja, Meister.«
»Du wirst uns vorgeführt, weil Mitglieder unserer Zunft dich für würdig halten, ein Jünger auf Lebenszeit zu werden. Ist das dein Wille?«
»Ja, Meister.«
»Und bist du bereit, dein Leben, deine Seele und deine Treue den Geheiligten und deren Hütern zu verschreiben?«
»Ja, Meister.«
»Die Geheiligten erneuern uns nur, solange wir auch sie erneuern. Wir ehren sie mit unserem Fleisch und Blut, und dafür schützen und erneuern sie unser Fleisch und Blut. Verschreibst du dein Fleisch und Blut ihrer unsterblichen Heiligkeit?«
»Ja, Meister.«
Hinter ihm quillt nun aus Weihrauchfässern, die an schweren Ketten von Hand hin- und hergeschwungen werden, aromatisch riechender Rauch. Sofort ist die Luft erfüllt vom Duft süßer Gewürze, Onycha und Galbanum. Der Henge-Meister breitet die Arme weit aus. »Bringt denjenigen, der in die Schar der Jünger aufgenommen werden möchte, zum Schlachtstein.«
Lee Johns wird durch den Kreis zu dem Stein geführt. Er empfindet einen starken Drang, die Männer um ihn herum anzusehen. Sean hat ihn gewarnt, dass er das auf keinen Fall tun darf. Er darf keinem der Männer im Großen Gewölbe ins Gesicht blicken, ganz besonders nicht dem Meister.
Eine Stimme flüstert ihm zu, sich hinzuknien. Der Boden ist hart und kalt. Hände drücken ihn in eine liegende Position. Vier Jünger fixieren seine Fußknöchel und Handgelenke. Mit gespreizten Gliedmaßen binden sie ihn auf den fleckigen Schlachtstein. Der Henge-Meister tritt näher, gefolgt von fünf Weihrauchschwingern, die allesamt zum Inneren Kreis gehören. »Glaubst du an die Macht der Geheiligten und deren Jünger?«
»Ja, Meister.«
»Vertraust du ohne zu fragen und ohne zu zögern auf ihre Macht, uns zu schützen, zu erhalten und zu heilen?«
»Ja, Meister.«
»Und schwörst du bei deinem Leben und dem Leben aller Mitglieder deiner Familie und aller von dir geliebten Menschen, außerhalb deiner Bruderschaft niemals über die Zunft zu sprechen, es sei denn, du bekommst die Erlaubnis dazu?«
»Ja, Meister.«
Die Weihrauchschwinger beschreiben mit ihren Gefäßen eine Reihe von Kreisen über seinen festgebundenen Gliedmaßen und seinem Torso, ehe sie zurücktreten. Der Henge-Meister hält inzwischen eine lange, dunkle Klinge in Händen, gefertigt aus einem rasiermesserscharfen Stein, der aus dem ersten Trilithen des Steinkreises geschnitten wurde. »Ich ritze dieses Blut, Fleisch und Gebein in der Hoffnung, dass ihr ihn als einen eurer Diener annehmen möget und ihm euren Schutz und Segen
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