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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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schnell gefunden wurde, sie wollte da sein, um die ganze Aufregung mitzuerleben. Nicht weil sie eingebildet oder stolz oder dergleichen war, sondern weil die Entdeckung Teil der gesamten Ereignisse war. Jetzt zu gehen, wäre so, als würde man ein Buch nicht zu Ende lesen. Und Martha hatte die Bücher, die sie begonnen hatte, immer zu Ende gelesen, selbst wenn sie ihr nicht gefielen. Und sobald man die Identität des Toten herausgefunden hatte, würde man doch bestimmt zu ihm nach Hause gehen und etwas finden, das ihn mit den Gräueltaten in Verbindung brachte, die er begangen hatte, oder? Ein Mann wie er konnte es nicht vermeiden, irgendeinen Beweis zurückzulassen. Und Martha wollte in der Nähe sein, wenn die ganze Geschichte in die Zeitungen kam. Selbst wenn es mit Risiken verbunden war, wollte sie bleiben, um den Tratsch und das Geflüster in den Pubs und entlang der Staith zu hören - um die Gewissheit zu haben, dass sie diejenige war, die die Welt von einem solchen Monster befreit hatte.
      Sie hatte keine Ahnung von den Gezeiten und den Strömungen, hoffte jedoch, dass die Leiche bald irgendwo in der Nähe angespült wurde. Es wäre zu viel verlangt, dass sie wieder in Whitby landete, doch vielleicht trieb sie ja nur ein kurzes Stück die Küste hinauf nach Redcar, Saltburn, Runswick Bay oder Staithes, vielleicht sogar die Küste hinab nach Robin Hood's Bay, Scarbo-rough, Flamborough Head oder Bridlington. Doch wo auch immer sie auftauchte, Martha hoffte, dass es nicht lange dauern würde.
      Sie trank ihren Kaffee aus und drückte die Zigarette in den Aschenbecher. Es war bereits elf Uhr. Jetzt, da sie den Hauptteil ihres Vorhabens hier erfüllt hatte, begann sich die Zeit zu dehnen: Sie konnte nur noch warten, was wesentlich passiver war, als zu suchen und zu planen.
      Um bis zum Mittagessen die Zeit totzuschlagen, erklomm sie erneut die 199 Stufen hinauf zur St. Mary's Church und der Abteiruine. Dieses Mal waren noch mehr Leute unterwegs: Kinder, die sich gegenseitig zum Gipfel hinaufjagten und dabei laut die Stufen zählten - »vierundachtzig, fünfundachtzig, sechsundachtzig ...«; alte Leute in Strümpfen, die bei jedem Schritt keuchten; Hunde mit heraushängenden Zungen, die hin und her liefen, als könnten sie unten von oben nicht unterscheiden.
      Martha stieg ohne Eile hinauf und zählte im Geiste mit. Wieder kam sie auf 199, obwohl die Legende besagte, dass es schwer wäre, zweimal auf die gleiche Zahl zu kommen. Oben stand Caedmon's Cross, ein schmaler, aufrecht stehender Stein von sechs Metern Höhe, sich nach oben verjüngend und mit einem kleinen Kreuz auf der Spitze. An der Längsseite waren mittelalterliche Figuren eingemeißelt - David, Hilda und Caedmon selbst -, wodurch das Denkmal aussah wie ein steinerner Totempfahl, und auf dem Sockel stand eine Inschrift: »Dem Ruhme Gottes und in Erinnerung an Caedmon, dem Vater der englischen Dichtung, entschlafen um 680«. Martha wusste allerdings, dass der Stein nicht so alt war; er war 1898 gestaltet und hier aufgebaut worden, nicht zu Zeiten Caedmons. Dennoch strahlte er Kraft aus. Besonders liebte sie die untertriebene Vereinfachung »entschlafen um«. Wenn sie sterben musste, dann wollte sie auch so einfach gehen. Wieder dachte sie an Jack Grimley und erschauderte, als wäre gerade jemand über ihr Grab gegangen.
      Sie blieb auf dem Friedhof stehen und verschnaufte nach dem langen Aufstieg - seit sie zu rauchen begonnen hatte, dauerte es immer länger, bis sie wieder Luft bekam - und schaute hinab auf die Stadt, die sich jenseits und unterhalb des Kreuzes ausbreitete. Unschwer konnte sie den dunklen, monolithischen Turm der St. Hilda's Church am Ende der Straße ihrer Pension und die herrschaftliche Reihe der weißen, viergeschossigen Hotels vor der Klippe in der East Terrace ausmachen. Außerdem konnte sie den Kieferknochen des Wales sehen, das Tor zu einer anderen Welt. Die verwitterten, rötlichen Grabsteine mit ihren verbrannt aussehenden, unebenen Oberkanten standen im Vordergrund; durch die täuschende Perspektive sahen sie größer aus als die Häuser über dem Hafen.
      Martha wandte sich ab und ging erneut in die Kirche. In der Sakristei lief gerade ein Vortrag vom Band. Vom häufigen Abspielen klang er blechern. Unbewusst, wie ferngesteuert bewegte sie sich durch die Kirche nach vorne, wo sie unter der großen, verzierten Kanzel in die Kabine NUR FÜR FREMDE schlüpfte. Es war dieselbe, in der sie schon einmal gewesen

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