Das stumme Lied
war, und wieder spürte sie das luxuriöse Gefühl der Abgeschiedenheit und des Wohlergehens. Selbst die geflüsterten Bemerkungen und klickenden Kameras der Touristen waren kaum zu hören. In der Stille fuhr sie mit den Fingerspitzen über den grünen Fries und kniete sich auf das rote, gemusterte Kissen. Dort, abgeschnitten vom Rest der Welt, brachte sie eine Art Gebet dar.
* 24
Kirsten
Am nächsten Morgen blieb Kirsten lange im Bett liegen. Vor ihrem Fenster sangen und zwitscherten die Vögel in den Bäumen und das Dorf füllte sich mit Leben. Nicht, dass übertrieben viel los gewesen wäre. Manchmal konnte sie das Surren von vorbeifahrenden Rädern hören, hin und wieder das Motorengeräusch eines Lieferwagens.
Sie stellte die leere Kaffeetasse auf das Tablett - Frühstück im Bett, eine Idee ihrer Mutter - und stand auf, um die Vorhänge aufzuziehen. Das Sonnenlicht brach herein und fing die Staubkörner ein, die in der Luft schwirrten. Das ist alles tote Haut, dachte Kirsten und fragte sich, woher sie das um Himmels willen hatte. Wahrscheinlich aus einem dieser Bildungsprogramme im Fernsehen, Wissenschaft für die Masse. Als sie das Fenster öffnete, strömte warme Luft herein, die den intensiven Geruch der Geißblätter in sich trug. Eine fette Biene summte vor dem Fenster herum, schien sich dann zu entscheiden, dass es drinnen nichts für sie zu holen gab, und schwirrte stattdessen hinab in den Garten.
Kirstens Zimmer spiegelte fast jede Phase ihrer Verwandlung von einem Kind zu einer weltoffenen Studentin der Sprache und Literatur wider. Auf der Frisierkommode, an die Wand gelehnt, saß sogar noch ihr Teddybär. Sich streckend ging sie herum und berührte ihre Sachen. Ihre Füße sanken tief in den Teppich. Wände und Decke waren in einer Art Meeresgrün gestrichen - oder war es Blau? Das hing im Grunde vom Licht ab, dachte Kirsten. Diese grünlich blauen Farben konnte sie meist nicht auseinander halten: türkis, himmelblau, azur, ultramarin. Doch heute, wo das Licht auf den Wänden schimmerte wie auf den Wellen des Ozeans, hatten sie eindeutig die Farbe des Mittelmeeres, an das sie sich durch Familienurlaube an der Riviera erinnerte. Die Wände schienen zu wirbeln wie das Wasser im Swimmingpool eines Hockney-Gemäldes. Als Kirsten in der Mitte des Zimmers stand, hatte sie das Gefühl, in einer Wasserhöhle zu treiben oder in ihrem Zentrum zu erstarren wie eine Blume in einem gläsernen Briefbeschwerer.
Eigentlich waren es zwei Zimmer. Das Bett mit der breiten Matratze, die für Kirstens Geschmack viel zu weich war, stand unter einem schmalen Fenster in einer kleinen Nische, die eine Stufe höher als das große Hauptzimmer gelegen war. In dieser Nische befanden sich auch die Kommode und die Wandschränke für ihre Kleidung. Eine Ebene tiefer lag das geräumige Arbeitsund Wohnzimmer. Ihr Schreibtisch stand im rechten Winkel zum Panoramafenster, sodass sie beim Arbeiten nur ihren Kopf drehen musste und hinaus auf die runden, grünen Berge der Mendips schauen konnte. Dort hatte sie während ihrer Semesterferien Seminararbeiten geschrieben und sich auf die kommenden Vorlesungen vorbereitet.
Über dem Schreibtisch hatte ihr Vater ein paar Regalbretter an die Wand montiert. Abgesehen von einigen Lieblingsbüchern der Kindheit wie Black Beauty, Der geheime Garten, Grimms Märchen und ein paar Bänden von Enid Blyton - Fünf Freunde, Hanni und Nanni - hatten die meisten Bücher mit ihrem Studium zu tun. Entweder war es Literatur zu Themen, an denen sie in den letzten drei Jahren gearbeitet und die sie nach Hause mitgenommen hatte, um in ihrem möblierten Zimmer Platz zu sparen, oder es waren Bücher, die sie vor allem in einem Antiquariat in Bath gekauft hatte und die Themen von Seminaren behandelten, für die sie sich einschreiben wollte. Das traf zum Beispiel auf die Bücher über mittelalterliche Geschichte und Literatur zu - Bedes Kirchengeschichte des englischen Volkes, Julian von Norwichs Offenbarungen der göttlichen Liebe und das anonyme Die Wolke des Unbekannten. Aber dieses Seminar hatte Kirsten nie besucht. Im letzten Moment hatte sie sich dagegen für eine Vorlesung über Coleridge entschieden, die von einem Fachmann auf diesem Gebiet gehalten wurde, einem amerikanischen Gastdozenten, der sich als tödlicher Langweiler entpuppt hatte und statt an der Weisheit der Biographia Literaria viel mehr daran interessiert war, den Studentinnen in der ersten Reihe unter den Rock
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