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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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stellen.
      Nach dem Frühstück ging sie hinauf in ihr Zimmer und packte ihre Sachen in die Tasche. Auf das Fensterbrett gelehnt rauchte sie eine letzte Zigarette und schaute nach links und rechts, von der nahen und wuchtigen St. Hilda's Church zur entfernten St. Mary's. Es war der erste bedeckte Tag seit einer Woche. Von der Nordsee her wehte ein kühler Wind, der nach Regen roch. Schon jetzt fiel ein leichter Nieselregen, der die Stadt wie einen feinen Nebel umhüllte. Die Sicht war schlecht und St. Mary's sah auf dem Gipfel der Klippe wie ein verschwommener, grauer Geist von einer Kirche aus.
      Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, nichts im Zimmer vergessen zu haben, stapfte Martha nach unten und sah den Besitzer seiner Frau helfen, das schmutzige Geschirr in die Küche zu tragen.
      »Ich würde jetzt gerne zahlen, wenn Ihnen das recht ist«, sagte sie.
      »Gut.« Er wischte seine Hände an der schmuddeligen weißen Schürze ab, die er trug. »Ich mache Ihnen die Rechnung fertig.«
      Martha wartete im Korridor. Auf dem polierten Holztisch neben dem Gästebuch lagen die üblichen Broschüren über Whitbys Sehenswürdigkeiten, Restaurants und Freizeitmöglichkeiten. An der Wand darüber hing ein Spiegel. Martha schaute sich prüfend an. Was sie getan hatte, hatte ihr Äußeres nicht verändert. Sie sah nicht anders aus als bei ihrer Ankunft: die gleichen zu schmalen Lippen, die Stupsnase und die Mandelaugen, der gleiche unordentliche, hellbraune Haarschopf. Ihr fehlten nur noch spitze Ohren, dann würde sie als Feuergöttin durchgehen.
      »Bitte schön.« Der Mann schaute sie vergnügt an, als er ihr die Rechnung reichte. Martha überprüfte den Gesamtbetrag und zog die entsprechende Summe aus ihrem Portemonnaie.
      »Bar?« Er schien überrascht zu sein.
      »Ganz recht.« Sie wollte weder Schecks noch Kreditkarten benutzen, damit ihre Spur nicht so leicht nachvollzogen werden konnte. Sie hatte sich den Scheck ihres Vaters in bar auszahlen lassen und ihr Konto geleert, bevor sie nach Whitby abgereist war, sodass sie eine ganze Stange Geld bei sich hatte. Natürlich steckte nicht alles auffällig in ihrem Geldbeutel, sondern war in den »Geheimfächern« ihrer Tasche versteckt.
      »Ich nehme an, Sie brauchen eine Quittung?«
      Einen Augenblick war sie verwirrt. Warum sollte sie eine Quittung brauchen?
      »Fürs Finanzamt«, fuhr er fort.
      »Ach so, ja, bitte.«
      »Einen Moment.«
      Fürs Finanzamt? Natürlich! Sie war ja eine Schriftstellerin auf Recherchereise. Als solche konnte sie ihre Ausgaben von der Steuer absetzen. Sie wurde nachlässig und vergaß die Kleinigkeiten.
      Der Mann kehrte zurück und reichte ihr einen Zettel. »Ich hoffe, das Buch wird ein Erfolg«, sagte er. »Whitby bietet jedenfalls eine Menge Atmosphäre. Ich selbst lese keine historischen Romane, aber meine Frau. Wir werden auf das Buch achten.«
      »Ja, tun Sie das«, antwortete Martha. Sie wollte ihm sagen, dass es eine wissenschaftliche, historische Arbeit war, doch irgendwie schien das nicht mehr wichtig zu sein. Ob historischer Roman oder Geschichtswissenschaft, es war ohnehin alles eine Lüge, was spielte es also für eine Rolle? »Vielen Dank«, sagte sie und ging durch die Tür hinaus.
      Draußen war es richtig kalt. Sie hatte ihre Steppjacke eigentlich über dem Arm tragen wollen, doch als sie sich auf ihren üblichen morgendlichen Marsch zum Monk's Haven machte, zog sie die Jacke lieber an. Was sie mit dem Rest des Tages anfangen sollte, wusste sie nicht genau. Vielleicht würde sie wieder hinauf zur St. Mary's Church gehen und sich in der Kabine einschließen. So sicher und geborgen wie am vergangenen Tag dort oben hatte sie sich seit Jahren nicht mehr gefühlt. Und danach musste sie eine neue Pension finden.
      Der Regen roch nach totem Fisch und Seetang. Die Passanten in der Silver Street und der Flowergate trugen Regenmäntel oder Schirme, Väter hielten ihre Kinder an den Händen. Merkwürdig, dachte Martha. Bei Sonnenschein war jeder entspannter und die Kinder liefen mit ihren Eimern und Schaufeln frei herum, jagten über die Bürgersteige und rempelten die Leute an. Doch sobald es regnete, rückten die Fußgänger zusammen und hielten einander fest. Wahrscheinlich war das Ausdruck einer Urangst, vermutete sie, ein Aufflackern primitiver Instinkte. Sie waren sich dessen, was sie taten, nicht bewusst. Schließlich war der Mensch auch nur eine Tierart, egal welch

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