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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Straße mit großen, dunklen Gasthäusern direkt an den Eisenbahngleisen, die alle ZIMMER FREI-Schilder in den Fenstern hatten, wählte sie das mittlere aus.
      Wenige Augenblicke nachdem sie die Türklingel gedrückt hatte, kam von irgendwo aus dem hinteren Bereich eine korpulente junge Frau mit gummiartigen Gesichtszügen herangeeilt und öffnete die Tür. Ihre Hände waren feucht, und sie sah müde und durcheinander aus, als würde sie gerade versuchen, zehn Hausarbeiten auf einmal zu erledigen, brachte aber ein Lächeln zustande, als Martha sagte, dass sie ein Zimmer suchte. Wahrscheinlich war sie erst Mitte zwanzig, dachte Martha, harte Arbeit, Kinder und Sorgen hatten sie jedoch schnell altern lassen.
      »Ein Einzelzimmer?« Ihre Stimme war eine Art jammernder Singsang.
      »Ja, bitte. Ein Dachzimmer würde reichen, wenn Sie eines haben.« Martha wohnte gerne hoch oben in Zimmern mit Balken und schrägen Decken.
      »Tut mir Leid«, sagte die Frau und trocknete die Hände an ihrem Kittel. »Das einzige Einzelzimmer, das wir haben, ist ein kleines Zimmer nach hinten raus.«
      »Ich schaue es mir an«, sagte Martha.
      Es war im zweiten Stock, ein deprimierendes kleines Zimmer mit einer Stucktapete, das hinaus auf Hinterhöfe voller Mülltonnen und streunender Katzen zeigte.
      »Es ist ruhig«, sagte die Frau. »Hier hinten hört man die Züge kaum. Na ja, viele fahren heutzutage sowieso nicht mehr.«
      Sie wollte unbedingt gefällig sein. Martha schätzte, dass sie und ihr Ehemann das Haus wahrscheinlich noch nicht lange besaßen und nun Probleme hatten, über die Runden zu kommen. Die Frau hatte sich augenscheinlich Mühe gegeben, den Korridor und die Zimmer freundlich zu gestalten, doch das Gebäude war düster und alt; obwohl es nicht so war, erweckte es den Eindruck, feucht und kalt zu sein, und die Nähe zur Bahnlinie stieß bestimmt die meisten Leute ab. Doch Martha machte sich nichts daraus. Es lag versteckt und war anonym. Auch wenn das Zimmer keinen prächtigen Ausblick auf die St. Mary's Church bot, würde es ihr eine gemütliche Zuflucht gewähren. Außerdem mochte sie die Frau mit ihren müden Augen und ihren vom Waschen geröteten Händen, sie tat ihr Leid. In gewisser Weise sah Martha sich als Verfechterin für die Sache solcher Frauen - nicht nur der tatsächlich missbrauchten, Überfallenen und verletzten, sondern der schwachen, unterdrückten und entmutigten.
      »Wie viel kostet es?«
      »Acht Pfund fünfzig. Und wir machen kein Abendessen. Tut mir Leid.«
      »Schon in Ordnung. Ich bin dann ohnehin meist unterwegs.« Martha dachte schnell darüber nach: Es war billig, unbekannt, und die Frau hatte ihr keine unangenehmen Fragen darüber gestellt, was sie allein in Whitby vorhatte. Bestimmt gab es einen Ehemann, doch der hatte wahrscheinlich einen Job, sodass sie ihn mit etwas Glück nicht häufig sehen würde. Auch dem Mann in der anderen Pension war sie nur bei ihrer Ankunft und Abreise über den Weg gelaufen. »Ich nehme es«, sagte sie und ließ ihre Reisetasche auf die blassgrüne Tagesdecke fallen.
      Die Frau sah erleichtert aus. »Gut. Wenn Sie kurz mit mir herunterkommen und sich anmelden, gebe ich Ihnen den Schlüssel.«
      Als Martha ihr nach unten folgte, fiel ihr auf, dass die Treppe an manchen Stellen knarrte. Das könnte zum Problem werden, wenn sie sich wie schon in der anderen Pension spät hereinschleichen musste. Doch wenn sie die Treppe am ersten Tag diskret unter die Lupe nahm, könnte sie herausfinden, welche Stufen sie auslassen musste.
      Die Rezeption war wesentlich schäbiger als die in der Abbey Terrace. Es gab keinen Spiegel und selbst die Werbebroschüren sahen staubig aus und hatten Eselsohren.
      »Ich bin übrigens Mrs Cummings«, stellte die Frau sich vor, während sie Martha eine Karte zum Ausfüllen reichte. »Tut mir Leid, wenn es so gewirkt hat, als würde ich Sie hetzen, aber mein Mann ist meistens mit den Booten draußen, sodass ich die Pension mehr oder weniger allein führen muss.«
      »Mit den Booten? Ist er Fischer?«
      »Na ja, so in der Art. Er bringt morgens und nachmittags Touristengruppen zum Fischen raus. Sie fangen natürlich nicht genug, um den Fisch zu verkaufen oder so, manche wollen einfach nur eine Bootstour machen. Aber in der Saison verdient er ganz anständig. Allerdings muss er dafür vor Sonnenaufgang raus und kommt oft erst nach dem Tee zurück. Hängt von den Gezeiten ab und davon, wie viele

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