Das Südsee-Virus
zwischen der Fensterfront und der Eingangstür hin und her.
»Nun setz dich, Bruderherz. Setz dich hin. Es ist ja nicht so, dass ich gleich alles über den Haufen schmeißen werde. Ich möchte mich nur intensiver einbringen. Als Person, der bewusst geworden ist, dass sie sich an einem Wendepunkt der Geschichte befindet. An solchen Wendepunkten nehmen wir Abschied von der Persönlichkeit, die wir waren. Wir begrüßen die Person, die wir gerade werden. Unsere Ängste entsprechen denen, die wir vor dem Sterben entwickeln. Dies herauszuschälen ist mir wichtig. Es ist mir wichtig, dass die Menschen begreifen, dass sie nicht allein sind mit ihrer Furcht, dass die Angst uns alle erfasst, aber dass wir sie miteinander teilen können. Wir müssen erkennen, dass die Erschütterung der alten Ordnung ein gewaltiges Potenzial gebundener Lebenskraft freisetzt, das uns nun befähigt, etwas völlig Neues zu schaffen. Wenn wir aber vor dem Unbekannten zurückschrecken, wenn wir uns vor der Verantwortung für das Neue drücken und nur zögerlich die nächsten Schritte gehen, dann deprimieren wir die Person, die wir werden zugunsten der Persönlichkeit, die wir waren. Und deshalb fühle ich mich gefordert an dieser Stelle. Verstehst du das, Bruderherz?«
Wieder wurde Omai bewusst, dass es die kleine Schwester, an die er sich ein Leben lang gewöhnt hatte, nicht mehr gab. Wenn er es richtig bedachte, hatte es sie nie gegeben. Maeva war schon als Kind ein widerspenstiger Sturkopf gewesen, aber spätestens, seit sie ihm ins Präsidentenamt von Tahiti gefolgt war, hatte er akzeptieren müssen, dass sie sich in ihren Überzeugungen durch nichts und niemanden abbringen ließ.
»Und?«, fragte er über die Rückenlehne der Couch gebeugt. »Was wollen wir jetzt machen?«
»Wir könnten überlegen, was ich übermorgen anziehen soll«, erwiderte sie lächelnd, aber durchaus ernst gemeint. »Ein traditionell tahitianisches Gewand scheint mir fast ein wenig zu folkloristisch für den Anlass. Was meinst du?«
Oh nein, auf dieses Spiel ließ er sich nicht ein. Er hätte sie stundenlang beraten können, mit den stimmigsten Argumenten der Welt, am Ende käme garantiert immer das Gegenteil heraus. Das lag in der Natur der Sache. So wie es in der Natur der Sache lag, dass sein Redeentwurf kraftvoll und männlich ausgefallen war. Bin gespannt, dachte Omai, wie sie dem Ganzen eine weibliche Note verpassen will. Denn bis zur Inhaltslosigkeit wird sie es hoffentlich nicht treiben …
Maeva wollte sich gerade zu Bett begeben, als ein Briefkuvert unter der Tür hindurchgeschoben wurde. Es war verschlossen, aber nicht beschriftet. Sie schlang den Gürtel um ihren Bademantel und öffnete die Tür zum Flur. Außer einem Zimmermädchen, das am Ende des Ganges an einem Servicewagen hantierte, war niemand zu sehen. Also kehrte sie zurück in ihre Suite, setzte sich auf die Couch und öffnete den Umschlag. Sie fand eine Zeichnung vor, auf der sich zwei seltsame, an Vögel erinnernde Wesen gegenübersaßen. Sie reichten sich die Hände und waren an den Füßen miteinander verbunden. Ihre langen Schnäbel schienen sich zu berühren. Die simple Darstellung bestand aus einer einzigen, alles umfassenden Linie. »Sorry!«, stand darunter. »Steve«.
Maeva musste schmunzeln. Es rührte sie, dass es Steve danach gedrängt hatte, sich für den Alkoholexzess zu entschuldigen, der Cording und ihm passiert war, denn eigentlich war er mit ihr verabredet gewesen. Die archaisch anmutende Zeichnung erinnerte sie an etwas, sie kam im Moment nur nicht darauf. Aber dann entdeckte sie über den Schnäbeln der schrägen Vögel einen negativ abgefassten Schriftzug: RONGORONGO . Plötzlich wurde ihr die Bedeutung dieser Hieroglyphe bewusst. Es handelte sich um ein Zeichen der mysteriösen und bis heute noch nicht vollständig entschlüsselten Symbolschrift Rongorongo, die ausschließlich auf den Osterinseln vorkam, wo sie über Jahrhunderte hinweg auf länglichen Holztafeln in jedem Haushalt streng behütet aufbewahrt wurde. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte ein christlicher Missionar ein solches mit Fischen, Vögeln, Palmen, Schildkröten und Phallussymbolen versehenes Holzbrett mit nach Tahiti gebracht. Die Tahitianer nannten die Schrifttafel Tahua . Und diese schnäbelnden Vögel, die sie vor sich liegen hatte, standen für den Begriff VERZEIHUNG!
Sie legte die in einem schwarzen Quadrat gefasste Zeichnung neben sich auf den Nachttisch. Die Entschuldigung, die ihr
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