Das Südsee-Virus
Energieversorgung von einer derart instabilen Region abhängig zu machen? Hatte denn niemand dieser anmaßenden Vision so etwas wie Vernunft entgegenzusetzen gehabt? Um den Saharastrom über eine Distanz von dreitausend Kilometern nach Europa zu transportieren, brauchte man Hochspannungs-Gleichstrom-Leitungen, da der Transport über normale Wechselstrom-Leitungen zu verlustreich war. Eine ideale Aufbauhilfe für den angeschlagenen Siemens-Konzern. Siemens lieferte fortan alles für Desertec: Hochspannungs-Übertragungssysteme für Gleichstrom, Dampfturbinen, Receiver sowie die gesamte Leittechnik für Solarthermie. Über zwanzig Leitungen waren von Nordafrika bisher nach Europa gelegt worden, jede besaß fünf Gigawatt Leistungskapazität. Ihre Routen führten durchs Mittelmeer. Über Gibraltar, Sizilien, Sardinien und Istanbul. Für Terroristen ein gefundenes Fressen. Die Leitungen wurden mit einem enormen Aufwand beschützt. Die Kosten trug natürlich der Verbraucher.
Cording musste an ein anderes, längst in Vergessenheit geratenes Großprojekt denken, mit dem Europa schon einmal im Mittelmeerraum versucht war, seine Energieprobleme dauerhaft zu lösen. Es war exakt hundert Jahre her, dass der deutsche Architekt und Geopolitiker Hermann Sörgel auf die Idee verfallen war, die Meerenge von Gibraltar mit einem monumentalen Staudamm zu schließen. Allein das Fundament des Atlantropa genannten Damms sollte 2,5 Kilometer breit und bis zu dreihundert Meter hoch sein. Die Bauzeit hatte Sörgel mit zehn Jahren veranschlagt. Zehn Jahre, in denen sich zweihunderttausend Arbeiter in vier Schichten hätten abmühen sollen, um den Zufluss aus dem Atlantik zu stoppen und das Mittelmeer weitgehend trockenzulegen. Ziel dieses ehrgeizigen Plans war es, Europa und Afrika zu einem Kontinent zu vereinen. Sogar an eine Eisenbahnverbindung Berlin – Kapstadt war gedacht worden. Der Staudamm selbst, da war sich der Architekt sicher, hätte genügend elektrische Energie für ganz Europa liefern können. Heute wusste man, dass Atlantropa erhebliche Druckveränderungen zur Folge gehabt hätte, die nicht ohne Einfluss geblieben wären auf die vulkanischen und seismisch aktiven Zonen in Italien, Griechenland oder der Türkei. Darüber hinaus hätte die Versteppung der Mittelmeerrandzonen die Niederschläge in Nordafrika verringert und die Ernteerträge dramatisch einbrechen lassen. Außerdem wäre der Meeresspiegel durch die Verdrängung des Mittelmeerwassers weltweit um einen Meter angestiegen, was nicht einmal die aktuelle Klimakatastrophe so schnell zuwege brachte.
Seltsam, dachte Cording, wie sich der Mensch durch kurzfristige Verblendungen immer wieder in irreparable Schwierigkeiten zu bringen weiß. Als dürste er geradezu nach der Katastrophe. Er blickte van de Laar an, der den Horizont mit dem Feldstecher absuchte.
»Wir müssten eigentlich jeden Moment da sein«, sagte der Holländer. »Ah ja, da vorn, dort, wo es blinkt. Sehen Sie selbst.«
Er reichte Cording das Glas. Was für ein Anblick! Die Trümmer des verschütteten Solarparks glitzerten kilometerweit in der Sonne, als hätte jemand eine Diamantenmine gesprengt. Die Splitter waren allerdings sauber ausgerichtet, es war nach wie vor alles in der Reihe. Hier lag er also begraben, der Traum von Europas solarer Zukunft.
»Wussten Sie, dass auf die Wüsten der Erde in sechs Stunden mehr Sonnenenergie niedergeht, als die gesamte Menschheit in einem Jahr verbraucht?«, fragte van de Laar, als Cording ihm den Feldstecher zurückgab. Robert van de Laar hatte das Desertec-Konzept mitentwickelt, das wusste Cording, da warf man die Flinte nicht so schnell ins Korn.
»Wenn wir es mit der Energiewende ernst meinen«, fügte der Holländer unbeirrt hinzu, »müssen wir wegkommen von der komplizierten Kernfusion, für die milliardenschwere Testreaktoren gebaut werden, wir müssen auch weg von der teuren CO 2 -Abscheidungstechnologie, die noch in den Kinderschuhen steckt. Sehen Sie, die Kosten für Kohle, Erdgas und Uran werden weiter extrem ansteigen, da sind die siebenhundert Milliarden, die wir über einen Zeitraum von fünfzig Jahren in Desertec investieren, gut angelegt.«
Cording verspürte wenig Lust, sich mit diesem Mann auf einen Disput einzulassen, das wäre zwecklos gewesen. Also hielt er den Mund und ließ van de Laar reden.
Steve und Shark diskutierten unterdessen über den geeigneten Platz, an dem sie Maeva aussetzen konnten, um mit den Dreharbeiten zu beginnen. Sie
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