Das Südsee-Virus
ihr von den Wirren zu berichten, die ihre Insel nach Castros Tod an den Rand des Bürgerkrieges gebracht hatten. Und vom Wandel, den sie mitinitiiert hatte.
»Nach meinem Ökonomiestudium nutzte ich die Bloggerszene, um meine Vorschläge ins Netz zu stellen. Meiner Meinung nach konnte sich Kuba nur erholen, wenn es sich aus der Abhängigkeit vom Erdöl befreite und stattdessen auf erneuerbare Energien setzte. Anfangs hat der Geheimdienst noch versucht, unsere Internetplattformen zu blockieren, aber das hat nur dazu geführt, dass sich das Virus der freien Meinungsäußerung immer rasanter ausbreitete. Wir waren nicht mehr zum Schweigen zu bringen. In den Diskussionsforen des Cyberspace hat sich Kuba international vernetzt. Die Weltöffentlichkeit erfuhr plötzlich die Wahrheit über das Innenleben dieses Staates, sie erfuhr beispielsweise von den Frauen in Weiß , die im Schlagstockhagel der Armee regelmäßig für die Freilassung ihrer verhafteten Angehörigen demonstrierten.«
Ana stand auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte die Arme nach oben, als wolle sie den Himmel berühren. Dann reichte sie Maeva die Hand und zog sie an ihre Seite.
»Willst du wissen, warum mich die Kubaner gewählt haben?«, fragte sie verschmitzt. »Aus der Bloggerszene kam der Vorschlag, mit einer eigenen Partei an den Wahlen teilzunehmen. Die Partei nannte sich ¡Cuba Libre! und wurde von einem Großteil der Jugend unterstützt. Darüber hinaus genoss sie erhebliche Sympathien im kulturellen Lager sowie bei den Verfolgten und Geknechteten im Lande. Sie baten mich, ihnen als Spitzenkandidatin zur Verfügung zu stehen, wohl auch deshalb, weil man mir aufgrund meiner Ausbildung eine Menge ökonomischen Sachverstand zutraute. Das Problem war nur: Unsere Partei hatte kein Programm! Aber das hatten andere auch nicht. Neunzehn verschiedene Gruppierungen standen zur Wahl, alle so unsortiert wie wir. Ist es nicht herrlich hier?«, sagte sie unvermittelt und deutete auf die weite Landschaft, die ihnen zu Füßen lag. »Na ja, was soll ich sagen?«, fuhr sie fort. »Wir gaben die beiden einzigen Botschaften aus, für die man damals empfänglich war: Abschaffung der Planwirtschaft und Auflösung des Geheimdienstes sowie des gesamten kubanischen Militärapparates. Die Menschen waren von der Vorstellung, ihre Insel demnächst ohne die allgegenwärtige Armee vorzufinden, wie elektrisiert. WOZU BRAUCHEN WIR SIE ?! Das war der Slogan, mit dem wir die Wahl gewannen. Nicht schlecht, oder? Zu unserem Glück hat Tahiti der Welt damals sein sozioökologisches Gesellschaftsmodell vorgestellt. Etwas Besseres hätte uns nicht passieren können. Das Tahitiprojekt war wie zur Nachahmung empfohlen und den Kubanern relativ leicht zu vermitteln. Endlich hatten wir wieder eine Aufgabe, die uns alle forderte, und wir haben diese Herausforderung angenommen. Du wirst ja sehen, was wir aus eurer Idee gemacht haben, es wird dir gefallen …«
Maeva mochte diese Frau, sie war authentisch. Anas unerschöpflicher Optimismus tat ihr gut, ebenso wie ihre behutsame Umgangsform. Ihre Gastgeberin war bisher mit keinem Wort auf die Tragödie in Bolivien eingegangen und schien doch voller Mitgefühl zu sein. Jetzt freute sie sich auf den Abend. Da wollte Kubas Präsidentin ihr von der Macht der Frauen berichten, wie der Untertitel ihres »Handbuches für Staatsführerinnen« hieß, das auf der Karibikinsel zum Bestseller geworden war.
»Ich weiß nicht, ob du dir die Situation überhauptvorstellen kannst«, sagte Ana, während sie die Holzscheite im Kamin ordnete, denn es war empfindlich kalt geworden. Sie griff zum Blasebalg, um die Glut auf den Reisigbündeln zu entfachen, die zwischen den Scheiten steckten.
Dann hockte sie sich neben Maeva auf die Kissen, die auf dem Boden drapiert waren. »Man kann einfach nicht glauben, dass ausgerechnet wir Kubaner dem Patriarchat die Stirn geboten haben. Du kennst die Sprüche von der radikalen Weiberkratie, die über uns in Umlauf sind. Wie soll das funktionieren?, fragt man sich. Ich verstehe die Ratlosigkeit. In den männerbeherrschten Systemen gilt nur eines: die Erhaltung der Männerherrschaft. Aber das Patriarchat, das wisst ihr Tahitianer sehr gut, ist nicht naturgegeben, es ist nur eine Lebensform unter vielen. Und wenn die Menschen feststellen, dass diese Lebensform zu einem menschenwürdigen Dasein nicht taugt, dass sie auf längere Sicht gesehen nicht einmal zum Überleben taugt, dann sind sie frei, sich anders
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