Das Sühneopfer: Historischer Kriminalroman (Schwester Fidelma ermittelt) (German Edition)
lässt auf einen Mann schließen, der auf ein gepflegtes Äußeres Wert legte.«
»Gibt es noch etwas, worauf du uns aufmerksam machen kannst?«, fragte Fidelma.
»Am wichtigsten ist der Name der Frau, den er geschrien hat. Wer ist sie oder war sie? Dein Bruder sollte den Namen sofort erkennen und wissen, worum es dem Täter ging. Colgú hat immer offen über Persönliches geredet. Zurzeit können wir ihn jedoch nicht fragen. Irgendwer aus seiner Umgebung sollte sich an den Namen erinnern und wissen, welche Bewandtnis es damit hat.«
Kapitel 2
Es verging etliche Zeit, ehe Eadulf die Augen zufielen. Lange hatte er neben Fidelma wach gelegen, die sich unruhig hin und her warf. Ihr gut zuzureden hatte er nicht gewagt, hoffte vielmehr, der Schlaf, den sie dringend nötig hatte, würde sie über kurz oder lang überwältigen. Und als er dann selbst aufschreckte, hatte er nicht das Gefühl, überhaupt geschlafen zu haben. Es war noch dunkel. Was aber hatte ihn geweckt? Unwillkürlich tastete er mit der Hand die Matratze ab. Das Lager neben ihm war kalt und leer. Er brauchte einen Moment, um die Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, und setzte sich auf. Obwohl heftiger Westwind die Sturmwolken weggefegt hatte, war draußen schwarze Nacht, denn das erste Viertel des Mondes spendete nur spärlich Licht.
Eadulf vernahm ein leises Geräusch und machte am Fenster eine Gestalt aus, die hinaus in die Nacht schaute.
»Fidelma?«
Sie drehte sich zu ihm um.
»Verzeih, Eadulf. Ich wollte dich nicht stören.«
Noch nie hatte er diesen Tonfall in ihrer Stimme vernommen. Im Nu war er aus dem Bett, eilte zu ihr und nahm ihre kalten Hände in seine.
»Du hast geweint.« Sacht fuhr er ihr über die tränennassen Wangen. Sie sagte nichts, schniefte nur leise.
»Dein Bruder ist eine starke Natur, und in der Fürsorge von Bruder Conchobhar ist er bestens aufgehoben.« Eadulf war um Zuspruch bemüht.
Sie nickte schwach. »Ich kenne Bruder Conchobhar, seitich denken kann. Es gibt keinen besseren Arzt auf der Welt, dem ich das Leben meines Bruders anvertrauen würde.«
Es folgte bedrückende Stille, die von einem für Eadulf unerwarteten Schluchzen unterbrochen wurde. Fidelma gehörte nicht zu den Menschen, die ihren Gefühlen freien Lauf ließen. Nur in ganz seltenen Momenten hatte Eadulf erahnt, was in ihrem Inneren vorging, denn sie hatte sich über die Jahre hinweg ein unbewegliches Äußeres angewöhnt; nur hin und wieder ließ sie ihn ihre wahren Gefühle erkennen, ihre Empfindsamkeit, ihre Verwundbarkeit – Empfindungen, die sie als Anwältin gelernt hatte zu verbergen waren in ihrer Arbeit doch unbestechliche Logik, scharfe Rede und unerschütterliches Auftreten verlangt, der Umgang mit Einfältigen und mit Vorurteilen Behafteten duldete keinerlei Toleranz. Eadulf war der Einzige, der hinter dieser Tarnung den wahren Menschen in ihr sah, und doch überraschte es ihn, sie jetzt angesichts des versuchten Mordes an ihrem Bruder so fassungslos zu erleben.
Er wusste, dass er sie nicht würde trösten können. Ihr zu sagen, dass Tränen normal seien, dass sich die Dinge zum Guten wenden und ihr Bruder sich wieder erholen würde, war sinnlos. Mit solchen Plattitüden brauchte er ihr nicht zu kommen.
»Ich weiß, wie sehr du deinen Bruder liebst«, sagte er nur leise und hielt ihre kalten Hände immer noch fest umschlossen.
»Er ist der Einzige, der mir von der engeren Familie geblieben ist«, murmelte sie betrübt. »Unsere Mutter starb bei meiner Geburt, und unser Vater folgte ihr schon bald. Mein ältester Bruder, Forgartach, starb, während ich auf der Hohen Schule für Rechtskunde war. Kein Wunder, dass Colgú und ich uns sehr nahestehen. Selbst als wir beide studierten undich dann ins Kloster ging, verloren wir uns nicht aus den Augen. Wann immer wir konnten, haben wir uns gesehen.«
»Du hast doch aber noch viele Vettern. Finguine zum Beispiel, den Thronfolger deines Bruders.«
»Aber zu keinem von ihnen habe ich eine so enge Bindung wie zu Colgú, auch wenn in unserer Gesellschaft die Familienbande ungemein wichtig sind. Die Familie geht uns über alles, und unsere Genealogen sind sehr genau im Aufführen unserer Vorfahren. Unser Stammbaum geht bis in die Urzeiten zurück.«
»Ja, ich habe die forsundud , die Lobeshymnen und Gedichte auf deine Vorfahren, gehört«, pflichtete ihr Eadulf bei.
»Kein König oder Stammesfürst kann ernannt werden, ohne dass vor der Versammlung die forsundud seiner Vorfahren gesungen
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