Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
dass es fast nur aus den großen traurigen Augen zu bestehen schien. In Dijon war ihr nicht aufgefallen, wie dürr der Junge war, sie war zu sehr mit ihrer eigenen Angst beschäftigt gewesen. Vielleicht hatte er seit Tagen nichts gegessen? Egal, was er vorgehabt hatte, sie bekam Mitleid mit ihm.
»Warum bist du uns denn gefolgt?«, fragte sie auf Deutsch und hätte sich am liebsten sogleich auf die Zunge gebissen. Wie sollte der Bursche sie verstehen? Aber zu ihrer großen Überraschung sah er sie aus seinen großen, dunklen Augen an und antwortete in brüchigem Deutsch mit starkem Akzent: »Der Abt nischt gut su mir war. Isch wollte schon seit Monate flüschten, aber isch nischt wusste wie und woin.«
Bedrich und Pfeiffer waren ebenso überrascht wie Jana.
»Er spricht Deutsch!«, sagte Pfeiffer fassungslos.
»Vielleicht stammt er aus einer deutschen Stadt?«, meinte Bedrich.
Aber der Junge schüttelte den Kopf. »Mein Mutter sprischt Deutsch, sie aus Strassburg stammt. Aber sie ist wegen meine Vater nach Bordeaux. Dann meine Vater ist gestorben und Mutter als Köschin zu die Brüder ins Kloster von die Jesuiten.«
»Warum bist du dann nicht in Bordeaux?«
»Die Abt dort misch ’at nach Dijon geschickt. Mein Mutter at sehr geweint, aber isch ’abe gehen müssen. In Dijon war schrecklisch. Die Abt ’at misch geschlagen, und wenn isch nischt ’abe getan, was er wollte, dann er ’at mir nischt gegeben zu essen.«
»Er hat ein Kind hungern lassen?«, fragte Bedrich entsetzt. »Wer tut denn so etwas?«
Während der Junge sprach, traten Tränen in seine großen Augen und flossen über die staubigen, eingefallenen Wangen. Entweder war er ein begnadeter Schauspieler oder er sprach die Wahrheit. Jana und Bedrich waren gewillt, ihm zu glauben. Doktor Pfeiffer zweifelte.
»Das ist eine unglaubliche Lügengeschichte, die du dir da ausgedacht hast«, sagte der Arzt verärgert.
Doch der Junge schüttelte den Kopf: »Nein, isch schwöre bei die Leben von meine Mutter. Isch sage die Wa’eit. Isch dachte, wenn isch Eure Buch nehme an misch, dann ihr müsst misch nehmen mit.«
»Du wolltest uns bestehlen und hinterher erpressen?«, fragte Pfeiffer aufgebracht.
Schuldbewusst nickte der Junge. »Isch nur will surück su meine Mutter.«
Nun flossen die Tränen beständig und ohne Unterbrechung über die mageren Wangen.
»Du willst also, dass wir dich mitnehmen?«, fragte Jana.
Der Junge blickte betrübt zu Boden und sprach so leise, dass nur sie, die direkt vor ihm hockte, ihn verstehen konnte.
»Es tut mir leid. Isch wollte das Buch nischt be’alten.«
Betroffen von der Traurigkeit des Kindes stand Jana auf und machte einen Schritt zurück.
»Ich habe eben nicht richtig verstanden, was er gesagt hat«, sagte Pfeiffer.
»Er will, dass wir ihn mitnehmen.«
»Ha!«, rief Pfeiffer empört. »Die Sache wird ja immer besser. Zuerst schickt Abt Nicola uns einen Klosterschüler nach, und dann behauptet der Zwerg, dass er uns bloß verfolgt hat, weil er mit uns kommen wollte.« Er wandte sich direkt an den Jungen: »Bürschchen, wenn du willst, dass wir dir glauben, musst du dir eine bessere Geschichte ausdenken.«
Der Junge schluchzte leise und tonlos, seine schmalen Schultern bebten.
Bedrich trat zu ihm und legte seinen kräftigen Arm um ihn: »Na, na, kleines Kerlchen«, sagte er beruhigend. »Schau, ich habe gerade Frühstück gemacht. Wir haben Eier mit Speck, die werden dich aufmuntern.«
Jana eilte zur Feuerstelle, häufte Eier und Speck auf eine dicke Scheibe Brot und reichte sie dem Jungen.
»Wie heißt du?«
»Sebastian!« Mit großen, feuchten Augen starrte der Junge auf das dargebotene Brot. Doch mit den Fesseln an den Händen konnte er es nicht greifen.
Jana verstand und begann die Fesseln, die Pfeiffer zu fest geschnürt hatte, zu lösen.
Der Junge schniefte ein letztes Mal, zog die Nase lautstark hoch und schluckte hart. »Merci beaucoup!«
»Das kann nicht Euer Ernst sein!«, schrie Pfeiffer empört.
Aber Jana drehte sich verärgert zu ihm und funkelte ihn an. »Sebastian ist ein Kind. Ihr könnt unmöglich ein halbverhungertes Kind einfach davonjagen, nur weil es vor einem Abt flüchtet, der Kinder quält.«
Pfeiffer wollte etwas erwidern, aber Jana hatte den Jungen nun von den Fesseln befreit und schob das Brot näher zu ihm.
»So, jetzt kannst du dein Frühstück essen«, sagte sie.
Der Junge stürzte sich darauf wie ein ausgehungertes Tier.
» Trés bien! Isch ’abe noch nie gegessen
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