Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
auskennen, die andere Gelehrte nicht lesen können.«
Pfeiffer fühlte sich geschmeichelt. »Ich bemühe mich, den Dingen auf den Grund zu gehen. Aber es wundert mich, dass ich einen guten Ruf als Mediziner haben soll. Man hat mich aus Wien davongejagt, weil ich es gewagt habe, die Säftelehre Galens zu kritisieren.«
Tepence schnaufte verächtlich und machte eine abfällige Handbewegung. »Die Wiener«, sagte er und rümpfte die Nase.
Es war kein Geheimnis, dass die Prager nicht die beste Meinung über die große Stadt im Südosten hatten. Kaiser Rudolf II. hatte damals seinen Regierungssitz nach Prag verlegt, aber Ferdinand regierte wieder von Wien aus und beraubte damit Prag der Bedeutung, die der Stadt nach Meinung ihrer Bewohner zustand.
Tepence winkte Pfeiffer zu sich.
»Hinter dieser Tür befinden sich die wertvollsten Bücher des Kollegs«, sagte er und zeigte auf einen winzigen Rahmen, der geschickt in einer roten Wandbespannung versteckt war. »Eine der Schriften gehört mir, ein Dokument, das aus ein paar kostbaren Blättern besteht. Der Kaiser hat es mir vor seinem Tod geschenkt. Überaus wertvoll, Rudolf hat damals mehr als sechshundert Dukaten dafür bezahlt.«
»Sechshundert Dukaten?«, wiederholte Pfeiffer fassungslos und sog geräuschvoll die Luft ein. Nie im Leben würde er an eine derart hohe Summe gelangen, nicht einmal dann, wenn er vom heutigen Tag an keinen Kreuzer mehr ausgeben und seine gesamten Einkünfte sparen würde.
»Das Besondere an dem Dokument ist, dass es in einer völlig unbekannten Sprache verfasst wurde. Die Schriftzeichen sind fremdartig, und bis heute ist es niemand gelungen, das Rätsel zu entschlüsseln. Zunächst glaubten wir, das Werk wäre zweihundert Jahre alt. Inzwischen nehmen wir an, dass es doch deutlich jünger ist, vielleicht lebt der Verfasser sogar noch.« Nachdenklich griff sich Tepence mit der linken Hand an den Schnurrbart und drehte das spitze Ende noch weiter ein.
Etwas leiser fuhr er fort: »Die Kirche vermutet dahinter das Werk eines gefährlichen Häretikers. Eine Ketzerschrift, die alles bisher Dagewesene sprengt. Lästerlicher noch als die Thesen Martin Luthers. Man ist davon überzeugt, dass von diesen Seiten eine große Gefahr ausgeht, und hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Verfasser der Schrift zu finden und zu bestrafen, um den Glauben zu schützen.«
»Ihr teilt diese Angst?«
Der alte Mann zuckte mit den Schultern.
»Ich will wissen, wer und was dahintersteckt. Ich denke, dass ein Mann der Wissenschaft das Problem eher lösen kann als Theologen, die in dieser Angelegenheit befangen sind.«
Pfeiffers Stirn legte sich in Falten. »Warum vermutet man, dass die Schrift Häresie birgt?«
»Einige Schriftzeichen und Illustrationen deuten auf Ketzerei hin. Es sieht aus, als deute der Verfasser eine Verbindung der katholischen Kirche mit den bösen Kräften der Unterwelt an.«
»Das ist mir zu allgemein. Könnt Ihr mir ein konkretes Beispiel nennen?« Pfeiffers Neugier war geweckt.
»Eines der Bilder zeigt eine Pflanze, die mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird, gleichzeitig weisen Wurzeln und Blätter des Strauchs die Symbole der katholischen Kirche auf. Vielleicht geht es darum, die beiden zu vereinen und zu einem Ganzen verschmelzen zu lassen? Die Kirche als Fundament, auf dem die Frucht des Bösen gedeihen soll. Des Weiteren gibt es astronomische Darstellungen, die andeuten, die Verschmelzung könnte an einem bestimmten Tag in der Zukunft geplant sein.«
Pfeiffers Grinsen verschwand, und auch die Farbe wich aus seinem Gesicht.
Tepence bemerkte es nicht, er war zu sehr in seine Ausführungen vertieft. »Seit über zwanzig Jahren befasse ich mich mit dem Dokument. Wenn der Verfasser noch lebt, will die Kirche den Mann ausfindig machen und ihn vor ein kirchliches Gericht stellen. Auch ich selbst möchte herausfinden, was sich tatsächlich hinter der Schrift verbirgt. Vielleicht ist es Häresie, vielleicht etwas ganz anderes.« Seine Stimme wurde vor Aufregung brüchig, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Tepence wischte sie mit dem Handrücken weg und fuhr fort: »Der Schreiber muss wohlhabend gewesen sein, denn er hat wertvolles Pergament und teure, farbige Tinte verwendet, wie man sie in den Klöstern vor rund zweihundert Jahren benutzte. Das war der Grund, weshalb wir zunächst vermuteten, dass das Dokument älter ist. Ich denke, es gibt heute nur noch eine Handvoll Männer, die imstande sind, so sorgfältig
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