Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
beeilt Euch, damit ich das quälende Rätsel um diese Schrift nicht mit ins Grab nehmen muss.«
Sosehr Pfeiffer den Wunsch verstehen konnte, es war ihm unmöglich, dem alten Mann das Geheimnis zu verraten.
»Morgen komme ich wieder«, sagte er müde. »Ich nehme doch an, dass außer Euch und dem jungen Studenten niemand von meinem Besuch erfährt, oder?«
»Zur dritten Stunde nach Mittag am hinteren Eingang des Gartens. Man wird Euch erwarten.«
4
Heidelberg
Z UFRIEDEN KNÖPFTE M AREK seinen Mantel auf. Ein lauwarmer Wind umspielte sein Gesicht. Es war der erste warme Frühlingstag, ein süßer Duft nach frischem Gras und warmer Erde lag in der Luft. Aber nicht die Vorboten der warmen Jahreszeit waren der Grund für Mareks gute Laune, sondern vielmehr die Tatsache, dass er das wertvolle Manuskript und das kostbare Amulett soeben in die Hände eines verlässlichen Boten gelegt hatte. Der Mann würde es innerhalb der nächsten zwei Tage nach Prag bringen.
Beschwingt beschleunigte Marek seine Schritte. Die letzten fünf Tage hatte er zum Großteil in seiner Kammer verbracht, die er bloß verlassen hatte, um der dringendsten Arbeit an der Universität nachzugehen oder frisches Brot, Wasser und neue Kerzen zu holen. Jetzt genoss er die Bewegung an der frischen Luft. Aber er hätte es nicht geschafft, das Reisetagebuch zur Seite zu legen, ehe er es nicht vollständig kopiert und wenigstens einen Teil seiner Geheimnisse enträtselt hatte. Schon nach wenigen Seiten war er in den Bann der Schrift geraten.
Ihm war rasch klargeworden, dass es sich um kein gewöhnliches Reisetagebuch handelte, auch wenn darin unbekannte Landschaften, seltsame Tiere und fremde Menschen beschrieben wurden. Neben den üblichen Reisebeschreibungen enthielt die Schrift Wissen, das so geschickt verschlüsselt worden war, dass es von unliebsamen Lesern nicht verstanden werden konnte. Die meisten Informationen brachen mitten im Satz ab. Marek nahm an, dass die Botschaft in einem weiteren Band ergänzt und vervollständigt wurde, denn einige der Zeichnungen enthielten Hinweise auf zwei weitere Bücher des Tagebuchs. Bald schon war Marek fest davon überzeugt, dass er bloß einen Teil eines Konvoluts in Händen hielt.
Je rätselhafter der Text wurde, umso intensiver fühlte sich Marek von ihm angezogen. Der Wunsch, hinter das Geheimnis zu gelangen, war wie ein Fieber, das sich über seinen ganzen Körper ausbreitete, seine Sinne lahmlegte und nur noch einen Gedanken zuließ. Stunde um Stunde arbeitete er im schwachen Schein der Kerze, so lange, bis seine Augen tränten und die Schrift des Paters verschwamm wie Tinte im Regen. Aber Marek gab nicht auf. Er war nicht umsonst Astronom, Mathematiker und Mystiker und verfügte über ein unglaublich feines Gespür für Zahlen und Symbole. Nach zwei schlaflosen Nächten war er sicher, dass das Manuskript aus drei Einzelteilen bestand, die an unterschiedlichen Orten aufbewahrt werden sollten. Marek brauchte drei weitere Tage und genauso viele Nächte, um herauszufinden, dass die Zahlen auf einer der Zeichnungen, einer bestimmte Abfolge im Alphabet zugeordnet waren. Tauschte man die Zahlen gegen Buchstaben aus, ergaben sich die Worte: Burdigala und Divio. Die Worte kamen ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht daran erinnern, wo er sie schon einmal gehört hatte.
Zwei Tage später lieferte eine alte römische Landkarte an der Wand der Universitätsbibliothek die Antwort. Wie jeden Freitag ging er nach dem Unterricht daran vorbei, und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Burdigala und Divio waren die alten lateinischen Bezeichnungen für die Städte Bordeaux und Dijon. Er hatte die letzten Tage ständig so sehr um die Ecke gedacht, dass selbst die einfachsten Dinge kompliziert wurden. Marek fand schnell heraus, dass es in beiden Städten große Jesuitenklöster gab. Wenn er die Botschaft richtig verstanden hatte, war in jedes der Klöster ein Teil des Reisetagebuchs geschickt worden. Mareks Teil hätte nach Lugdunum gehen sollen. Die Stadt hieß heute Lyon, und auch dort gab es ein Kloster der Jesuiten. Aber der Matrose hatte den Plan vereitelt, indem er den Text an sich genommen hatte.
Seit Marek wusste, wo sich die beiden anderen Teile der Schrift befanden, stand für ihn fest: Er musste sich auf die Suche danach machen. Eine Schrift, die verschlüsselt, geteilt und an drei geheimen Orten aufbewahrt wurde, enthielt mit Sicherheit ein Wissen, das es wert war, erforscht zu werden. Noch
Weitere Kostenlose Bücher