Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
vom Bett erhoben und es ihr ungefragt aus den Händen genommen. Nun begann er darin zu blättern.
Jana erkannte an seiner Miene, dass sein Interesse geweckt war. »Hat es Ähnlichkeit mit den Büchern, die Ihr im Clementinum lest?«, fragte sie.
»Nicht im Geringsten«, sagte Pfeiffer und schüttelte entschieden den Kopf.
»Das hier ist …«, er sog die Luft lautstark ein, »das ist faszinierend. Der Schreiber hat einen der bekannteren Chiffriermethoden angewendet, und Eurem Vater ist es bereits gelungen, den Großteil davon zu entschlüsseln. Nur mit den Zeichnungen kann ich im Moment noch wenig anfangen. Es scheint sich um Landkarten und Pflanzendarstellungen zu handeln.«
Voll Interesse blätterte er weiter. Dabei wurden seine Bewegungen mit jeder Seite, die er betrachtete, vorsichtiger. Schließlich fasste er das Papier so behutsam an, als wäre es mit Blattgold belegt, das von den Seiten stauben konnte.
»Das hier könnte die Darstellung unseres Planetensystems sein«, sagte der Arzt nach einer Weile nachdenklich und deutete auf eine Illustration, in deren Mittelpunkt sich ein strahlender Kreis befand.
»Erlaubt mir, das Buch genauer zu untersuchen«, bat er. In seiner Stimme lag eine Dringlichkeit, der sich Jana nicht entziehen konnte und wollte. Die Hoffnung, mit der sie die engen Stufen zum Dachboden heraufgeklettert war, hatte sich erfüllt. Und entgegen ihrer Befürchtungen hatte sie ihr Ziel ohne Bitten und Verhandlungen erreicht. Besser hätte es nicht laufen können.
Höchst zufrieden mit sich selbst überließ sie Doktor Pfeiffer das Buch und verließ die Kammer. Die Laterne nahm sie nicht mit, denn sie war sicher, dass der Arzt heute Nacht nicht mehr einschlafen würde. In völliger Dunkelheit tastete sie sich die Stufen hinab bis zu ihrer Kammer. Gut, dass sie in diesem Haus jede Bodenunebenheit und jede Ritze kannte.
Während der nächsten zwei Tage sah Jana den Gelehrten aus Wien nur beim Essen. Gleich nach dem Frühstück verließ er das Haus und kam erst spätabends wieder zurück. Jedes Mal hatte er stapelweise Bücher dabei, und nach dem Abendessen verschwand er schweigend und mit glänzenden Augen in seiner Dachkammer. Jana war davon überzeugt, dass er den Tag in der Bibliothek der Universität verbrachte und die Nacht lesend und forschend in seinem Bett. Ihr war es recht, und sie wartete neugierig auf Ergebnisse.
Einen Tag vor Christ Himmelfahrt stand Jana in der Vorratskammer der Küche und überlegte, wie viele Eier sie fürs Abendessen zukaufen musste. Eine ihrer Legehennen im Stall hinterm Haus war gestorben, und nun fehlte ihnen täglich ein Ei.
Sie zählte an den Fingern ab: »Sechs für den süßen Schmarren, drei für die Knödel …« Weiter kam sie nicht, denn von der Straße her drang Lärm bis in die Küche, die sich auf der Rückseite des Hauses befand.
Neugierig lief Jana durch den dunklen Flur, öffnete die Haustür und schaute hinaus auf den Platz mit dem goldenen Brunnen. Vor dem Gitter aus Schmiedeeisen hatte sich eine Menschentraube gebildet. Jana konnte nicht verstehen, was die Leute riefen, aber die Stimmen klangen aufgeregt. In der Mitte der Gruppe stand wild gestikulierend ein Mann, der offensichtlich Neuigkeiten zu berichten hatte.
Ein Junge lief an ihr vorbei, offenbar wollte er zu den anderen am Brunnen. Jana hielt ihn auf.
»Was ist denn passiert?«, fragte sie.
»Habt Ihr es denn noch nicht gehört?«
Jana verdrehte die Augen. »Würde ich dich fragen, wenn ich es wüsste?«
»Graf von Thurn und seine Männer haben den Burggrafen Martinitz, den Oberlandesrichter Slawata und den Sekretär Fabrizius aus dem Fenster der Burg gestoßen!«
Janas Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Sind die Männer tot?«
Der Junge zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.« Er ließ Jana stehen und lief weiter zum Brunnen.
Die Eingangstür zur Apotheke, die sich unmittelbar neben der Haustür befand, ging ebenfalls auf, der Lärm hatte auch Onkel Karel und Radomila auf die Straße gelockt.
Als der Onkel von dem Geschehen erfuhr, schüttelte er entsetzt den Kopf.
»Gott stehe uns bei«, sagte er müde. »Thurn stellt sich gegen die Habsburger! Die Rache wird schrecklich sein.«
Dann drehte er sich um und ging zurück in die Apotheke. Radomila hingegen hob die Röcke und lief rasch hinüber zum Brunnen, wo sie sich unter die versammelten Menschen mischte. Jana konnte sehen, wie sie sich direkt an den Redner wandte und mit hochrotem Kopf nach Einzelheiten
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