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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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Mantel oder Hut, sondern wie mit einem schmutzigen Gegenstand, den man vorübergehend dringend benötigt, der einem aber sofort danach fremd, nutzlos und widerwärtig wird. Das Grauenvolle dieses Gedankens konnte Katka mit ihrem Mastputengehirn nicht in vollem Umfang erfassen, und deshalb weinte sie – wie ihr selbst schien – sinnlos und ohne Grund.
    Es gab noch andere Vorkommnisse, die das trübe, schmutzige Leben dieser armen, kranken, dummen, unglücklichen Frauen durcheinanderrüttelten. Es gab zuweilen Fälle von wilder, ungezügelter Eifersucht mit Revolverschießerei und Gift; manchmal, sehr selten, erblühte auf diesem Misthaufen eine zärtliche, feurige und reine Liebe; manchmal verließen Frauen sogar mit Hilfe eines geliebten Menschen das Etablissement, doch fast immer kehrten sie zurück. Zwei- oder dreimal geschah es, daß eine Frau aus einem Bordell unversehens schwanger wurde, und das war nach außen hin stets lächerlich und eine Schande, im innersten Kern jedoch rührend.
    Wie auch immer – jeder Abend bringt so viel angespannte Erwartung mit sich, so viel sinnenpralle, aufputschende Hoffnung auf Abenteuer, daß jedes andere Leben, nach der Zeit im Freudenhaus, diesen trägen, willenlosen Frauen fad und langweilig vorkäme.

5
    Die Fenster sind weit geöffnet, dem schwülen dunklen Abend entgegen, und die Tüllgardinen bauschen sich leicht hin und her in kaum spürbarem Luftzug. Es riecht nach taufeuchtem Gras aus dem kümmerlichen kleinen Vorgarten, eine Spur nach Flieder und nach welkendem Birkenlaub von den Pfingstbäumen am Torbogen. Ljuba in blauer Samtbluse mit tiefem Brustausschnitt und Njura, die als »Baby« mit einem weiten, knielangen rosa Hängekleid angetan ist, ihr helles Haar offen trägt und Löckchen auf der Stirn hat, lehnen Arm in Arm auf dem Fensterbrett und singen leise ein Lied, das vom Krankenhaus handelt und unter Prostituierten höchst aktuell und gut bekannt ist. Njura singt dünn und näselnd die erste Stimme, Ljuba begleitet sie mit sattem Alt:
    »Montagmorgen will sich regen,
Ich möcht gern entlassen sein.
Doktor Krassow ist dagegen …«
    In allen Häusern sind die offenen Fenster hell erleuchtet, und vor den Eingängen brennen die Hängelaternen. Die beiden Mädchen können deutlich das Interieur des Saales im gegenüberliegenden Etablissement von Sofja Wassiljewna erkennen: das blitzende gelbe Parkett, an den Türen die dunklen kirschroten Draperien, die mit Schnüren gerafft sind, eine Ecke des schwarzen Flügels, den Trumeau mit Goldrahmen und die Frauengestalten in kostbaren Kleidern, die an den Fenstern erscheinen und wieder verschwinden, sowie deren Spiegelbilder. Der schnitzereiverzierte Eingang von Tröppel, rechter Hand, ist von bläulichem elektrischem Licht aus einer großen Mattglaskugel grell beleuchtet.
    Der Abend ist still und warm. Weit, weit entfernt, jenseits der Eisenbahnlinie, hinter schwarzen Dächern und dünnen schwarzen Baumstämmen, dicht über der dunklen Erde, deren frühlingshaft kräftiges Grün das Auge nicht sieht, aber genau erspürt, blinkt noch ein langer, schmaler Streifen späten Abendrots rotgolden durch die blaugraue Dämmerung. Dieses verschwommene ferne Licht und die sanfte Luft und die Gerüche der einbrechenden Nacht – in all dem liegt eine geheimnisvolle, süße, besinnliche Wehmut, wie man sie so lieblich an vielen Abenden zwischen Frühjahr und Sommer findet. Undeutlich treiben die Geräusche der Stadt durch die Luft, man hört den schwermütigen näselnden Klang einer Ziehharmonika, das Muhen von Kühen, das trockene Schlurfen von Schuhsohlen, das helle Klappern eines eisenbeschlagenen Stockes auf den Gehwegplatten, das träge, unregelmäßige Holpern einer Droschke, die im Schrittempo durchs Viertel fährt, und alle diese Geräusche verschmelzen in der schummerigen Abendstimmung angenehm weich miteinander. Auch die Lokomotivpfiffe von der Eisenbahnstrecke, die im Dunkeln durch grüne und rote Lichter markiert ist, klingen sanft und melodisch.
    »Schwesterchen mit weißem Häubchen
Bringt uns allen Zuckerbrot:
›Ach, ihr lieben sanften Täubchen,
Leidet alle gleiche Not!‹«
    »Prochor Iwanowitsch!« ruft Njura auf einmal dem lockigen Bediensteten aus der Bierstube zu, der als flüchtige dunkle Silhouette über die Straße läuft. »He, Prochor Iwanowitsch!«
    »Ich werd euch gleich …«, erwidert dieser bissig und heiser. »Was wollt ihr denn noch?«
    »Ich soll Sie von einem Freund grüßen. Den hab ich heute

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