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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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schnaufend, kletterte sie tolpatschig auf den Tisch. Der Arzt untersuchte sie, wobei er durch den Zwicker blinzelte und ihn alle naslang verlor.
    »Kannst gehen! Gesund.«
    Auf der Rückseite des Formulars vermerkte er: »28. August, gesund« und kritzelte seine Unterschrift. Noch während des Schreibens rief er: »Wostschenkowa, Irina!«
    Jetzt war Ljubka an der Reihe. In den zurückliegenden anderthalb Monaten ihres Lebens in relativer Freiheit war sie der wöchentlichen Untersuchungen bereits entwöhnt, und als der Arzt ihr nun das Hemd bis zur Brust hochschlug, errötete sie plötzlich so, wie nur sehr schamhafte Frauen erröten können, sogar an Rücken und Brust.
    Nach ihr war Soja an der Reihe, dann die Blonde Manka, danach Tamara und schließlich Njurka, bei der Klimenko Gonorrhoe feststellte und sie ins Krankenhaus überwies.
    Der Doktor untersuchte mit erstaunlicher Schnelligkeit. Es waren nun schon etwa zwanzig Jahre, daß er jede Woche sonnabends mehrere hundert Mädchen auf diese Weise untersuchen mußte, und er hatte technisches Geschick und Flinkheit entwickelt, jene ruhige Beiläufigkeit der Bewegungen, wie sie oft bei Zirkusartisten, Falschspielern, Möbelträgern und Packern und bei anderen Spezialisten anzutreffen ist. Und er tat seine Handgriffe mit der gleichen Gelassenheit, mit der ein Viehhändler oder ein Tierarzt mehrere hundert Stück Vieh untersucht, mit der gleichen Kaltblütigkeit, die ihn auch nicht verlassen hatte, als er zweimal dem Vollzug der Todesstrafe hatte beiwohnen müssen.
    Dachte er überhaupt daran, daß er lebendige Menschen vor sich hatte, oder daran, daß er das letzte und wichtigste Glied jener schrecklichen Kette war, die sich gesetzliche Prostitution nannte?
    Nein! Wenn ihm das jemals bewußt geworden war, so mußte es ganz am Anfang seiner Karriere gewesen sein. Jetzt sah er nur nackte Leiber, nackte Rücken und offene Münder vor sich. Kein einziges Exemplar aus dieser gesichtslosen allsonnabendlichen Herde hätte er anschließend auf der Straße erkannt. Das wichtigste war, die Untersuchung in dem einen Etablissement so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, um ins nächste, dritte, zehnte, zwanzigste weiterzugehen.
    »Susanna Raizyna!« rief der Arzt schließlich.
    Niemand trat an den Tisch.
    Alle Bewohner des Hauses wechselten Blicke und begannen zu flüstern.
    »Shenka … Wo ist Shenka?«
    Jedoch sie war nicht unter den Mädchen.
    Da trat Tamara, die soeben vom Arzt entlassen worden war, ein wenig vor und sagte: »Sie ist nicht hier. Sie war noch nicht fertig. Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich werde sie sofort rufen.«
    Sie lief auf den Korridor hinaus und kam lange nicht zurück. Ihr folgten zuerst Emma Eduardowna, dann Sossja, einige Mädchen und schließlich sogar Anna Markowna.
    »Pfui! Wie unanständig!« sagte die majestätische Emma Eduardowna im Korridor und machte ein entrüstetes Gesicht. »Und ewig diese Shenka! Andauernd diese Shenka! Jetzt reißt mir aber die Geduld …«
    Doch Shenka war nirgends zu finden – weder in ihrem Zimmer noch in Tamaras. Man schaute in die anderen Kammern, in alle Ecken und Winkel. Doch auch dort war sie nicht.
    »Wir müssen im Klosett nachsehen. Vielleicht ist sie dort?« vermutete Soja.
    Diese Örtlichkeit aber war von innen verriegelt. Emma Eduardowna klopfte mit der Faust an die Tür.
    »Shenka, so kommen Sie doch raus! Was sind das für Dummheiten?«
    Und dann schrie sie, die Stimme hebend, ungeduldig und drohend: »Hörst du, du Schwein? Komm sofort raus – der Doktor wartet.«
    Keine Antwort.
    Alle sahen sich an, Schreck und Furcht in den Augen, ein und denselben Gedanken im Sinn.
    Emma Eduardowna rüttelte an der kupfernen Klinke, doch die Tür gab nicht nach.
    »Holt Simeon!« ordnete Anna Markowna an.
    Simeon wurde gerufen. Er kam, wie gewöhnlich verschlafen und mürrisch. An den fassungslosen Gesichtern der Mädchen und der Verwalterinnen merkte er schon, daß etwas geschehen war, was seine professionelle Härte und Stärke erforderte. Als man ihm erklärt hatte, was los war, griff er mit seinen langen Affenarmen schweigend nach der Türklinke, stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand und zog.
    Die Klinke blieb in seinen Händen, er selbst taumelte rückwärts und wäre beinahe auf den Fußboden gefallen.
    »Ach, Scheiße!« knurrte er dumpf. »Gebt mir ein Messer.«
    Mit dem Messer ertastete er durch den Türspalt den inneren Riegel, hobelte mit der Schneide etwas von der Türkante ab und

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