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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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sind auch alle Rausschmeißer des Viertels seine vertrauten Freunde.«
    »Nein, das meine ich nicht«, widersprach Tamara in freundlichem Flüsterton. »Ich meine, er würde Sie am Kragen packen und aus dem Fenster werfen wie einen jungen Hund. Einmal hab ich so einen Flug durch die Luft schon gesehen. Das ist keinem zu wünschen. Erstens ist es peinlich und zweitens gefährlich für die Gesundheit.«
    »Hau ab, Miststück!« rief Sobaschnikow und wollte sie mit dem Ellbogen beiseite stoßen.
    »Ich geh schon, mein Guter«, sagte Tamara sanft und entfernte sich mit ihrem leichten Gang.
    Einen Augenblick wandten sich alle dem Studenten zu.
    »Nicht randalieren, du Stacheltier!« drohte Lichonin ihm mit dem Finger. »Bitte, sprechen Sie weiter«, bat er den Journalisten, »das ist alles so interessant, was Sie erzählen.«
    »Nein, ich sammle nichts«, fuhr der Journalist ruhig und ernst fort. »Aber Material gibt es hier wirklich in Hülle und Fülle, erdrückendes, schreckliches Material … Und das Schreckliche sind durchaus nicht die tönenden Phrasen vom Handel mit weiblichem Fleisch, von weißen Sklavinnen, nicht die Phrasen von der Prostitution als Krebsgeschwür der großen Städte und so weiter und so fort … die alte Leier, die allen schon über ist! Nein, fürchterlich sind die alltäglichen, zur Gewohnheit gewordenen Kleinigkeiten, diese tagtägliche kommerzielle Rechnerei, diese tausendjährige Wissenschaft vom Liebesleben, dieser prosaische Alltag, in Jahrhunderten eingeschliffen. In all diesen kaum spürbaren Nichtigkeiten lösen sich solche Gefühle wie Kränkung, Erniedrigung, Scham vollkommen auf. Übrig bleibt ein nüchterner Beruf, ein Kontrakt, ein Übereinkommen, ein nahezu ehrliches Geschäft, weder schlechter noch besser als etwa der Lebensmittelhandel. Verstehen Sie, meine Herren, das ganze Grauen besteht eben darin, daß es überhaupt nichts Grauenhaftes gibt! Kleinbürgeralltag – und basta. Und dazu noch der Beigeschmack einer geschlossenen Lehranstalt mit all ihrer Naivität, Grobheit, Sentimentalität und Theaterspielerei.«
    »Das stimmt«, bestätigte Lichonin, der Journalist aber fuhr fort, nachdenklich in sein Glas schauend: »In den Leitartikeln der Presse lesen wir die Hilfeschreie beflissener Seelen. Manche Ärztinnen bemühen sich ebenfalls in dieser Hinsicht, und zwar auf recht widerliche Weise. ›Ach, Reglementierung [3] ! Ach, Abolitionismus« [4] ! Ach, lebendige Ware! Leibeigenschaft! Die Puffmütter, diese habgierigen Hetären! Diese ekelhaften Auswüchse der Menschheit, die den Prostituierten das Blut aussaugen!‹ Aber mit Geschrei kann man doch niemanden schrecken und erschüttern. Wissen Sie, es gibt ein Sprichwort: Viel Geschrei und wenig Wolle, sagte der Teufel und schor eine Sau. Erschütternder als alle erschütternden Worte, hundertmal erschütternder ist irgendein kleines prosaisches Detail, das einen plötzlich wie ein Faustschlag trifft. Nehmen Sie nur den hiesigen Portier Simeon. Nach landläufigen Begriffen ist er so tief gesunken, daß es tiefer nicht mehr geht: Rausschmeißer in einem Bordell, ein Vieh, wahrscheinlich sogar ein Mörder, nimmt die Prostituierten aus, bringt ihnen ein ›blaues Auge‹ bei, wie es hier heißt, also schlicht und einfach – er schlägt sie. Und wissen Sie, wodurch wir uns nähergekommen sind und uns angefreundet haben? Durch eine Fülle von Einzelheiten des Gottesdienstes, durch den Kanon des ehrwürdigen Andreas von Kreta, durch die Werke des heiligen Vaters Johannes Damascenus. Religiös ist er – erstaunlich! Ich brauche ihm nur ein Stichwort zu geben, schon leiert er mit Tränen in den Augen: ›Kommt, Brüder, laßt uns zum letzten Male küssen den Verblichenen …‹ Aus den Beerdigungsriten. Bedenken Sie, welche Gegensätze – die können lediglich in einer russischen Seele so dicht beieinander wohnen!«
    »Ja, so einer betet und betet, dann bringt er jemanden um, und anschließend wäscht er sich die Hände und stellt eine Kerze vorm Heiligenbild auf«, sagte Ramses.
    »Genau. Ich kenne nichts Grauenvolleres als diese Mischung von völlig echter Gläubigkeit und dem angeborenen Hang zum Verbrechen. Soll ich Ihnen etwas gestehen? Wenn ich unter vier Augen mit Simeon spreche – und das tun wir oft stundenlang und ausführlich –, dann verspüre ich zuweilen regelrecht Angst. Abergläubische Angst! Als stünde ich im Dunkeln auf einem schwankenden Brett, über einen finsteren, übelriechenden Brunnen gebeugt, und

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