Das sündige Viertel
Gedanken und Gefühle eines zum Tode Verurteilten schildert. Er schildert laut, stark, glänzend, und ich lese es und … keinerlei Eindruck: weder Erregung noch Empörung – nur Langeweile. Aber kürzlich geriet mir eine Lokalnotiz in die Hände, wie irgendwo in Frankreich ein Mörder hingerichtet wurde. Der Staatsanwalt, der bei der letzten Toilette des Verbrechers anwesend war, sah, daß dieser die Schuhe an die bloßen Füße zog, und er, dieser Strohkopf, mahnte ihn: ›Und die Strümpfe?‹ Der andere aber sah ihn nur an und sagte unschlüssig: ›Lohnt denn das?‹ Verstehen Sie: diese drei kurzen Wörtchen trafen mich wie ein Schlag! Auf einmal erschloß sich mir das ganze Grauen und die ganze Sinnlosigkeit eines gewaltsamen Todes … Oder noch etwas anderes über den Tod. Einer meiner Freunde war gestorben, Hauptmann der Infanterie, ein Saufbruder, Vagabund und der gütigste Mensch von der Welt. Aus irgendeinem, Grunde nannten wir ihn Elektro-Hauptmann. Ich war in der Nähe, und mir fiel die Aufgabe zu, ihn für die letzte Parade anzukleiden. Ich nahm seine Uniform und wollte die Epauletten daran befestigen. Da wird eine Schnur durch die Epaulettenknöpfe gefädelt, wissen Sie, und dann muß man die beiden Enden dieser Schnur durch zwei Löcher unterm Kragen führen und von innen, von der Futterseite aus, zur Schleife binden. Ich fing also an mit dieser ganzen Prozedur, machte mit der Schnur eine Schlinge, doch ewig klappte es nicht: mal war alles zu locker, dann wieder war ein Ende zu kurz. Ich fummele und fummele, und auf einmal schießt mir der erstaunlich einfache Gedanke durch den Kopf, daß es viel leichter und schneller geht, einfach einen Knoten zu machen – das bindet doch sowieso niemand mehr auf . Und sofort empfand ich mit meinem ganzen Wesen den Tod. Vorher hatte ich zwar die glasig gewordenen Augen des Hauptmanns gesehen, seine kalte Stirn gefühlt, aber trotzdem den Tod nicht recht wahrgenommen, sondern an die Schleife gedacht. Und nun durchdrang mich das schlichte und traurige Bewußtsein, daß alle unsere Worte, Taten und Empfindungen unwiederbringlich verlorengehen, daß die ganze sichtbare Welt sterblich ist. Das drückte mich förmlich zu Boden. Und solche winzigen, aber beeindruckenden Details könnte ich noch zu Hunderten anführen. Allein schon, was Menschen im Krieg durchmachen … Aber ich will nicht abschweifen. Wir alle gehen doch an diesen charakteristischen Details gleichgültig vorüber, wie Blinde, als sähen wir nicht, daß sie vor uns auf der Straße liegen. Und dann kommt ein Künstler, der entdeckt sie und hebt sie auf. Und er läßt ein winziges Stück Leben so geschickt aufleuchten, daß wir alle baff sind. ›Ach du mein Gott! Das habe ich doch selber – ich selber! – mit eigenen Augen gesehen. Nur ist mir einfach nicht in den Sinn gekommen, so genau darauf zu achten.‹ Aber unsere russischen Künstler des Wortes – die gewissenhaftesten und ehrlichsten Künstler der Welt – haben bislang aus unerfindlichen Gründen um die Prostitution und das Bordell einen Bogen gemacht. Warum? Das zu beantworten fällt mir wirklich schwer. Vielleicht aus Abscheu, aus Kleinmut oder aus Angst, als Verfasser von Pornographie zu gelten, vielleicht auch einfach aus der Befürchtung heraus, unsere für Vetternwirtschaft bekannte Kritik könnte die künstlerische Arbeit eines Schriftstellers mit seinem persönlichen Leben identifizieren und anfangen, in seiner schmutzigen Wäsche zu wühlen. Oder womöglich fehlt es ihnen an Zeit und an Selbstlosigkeit und Selbstdisziplin, um ganz in dieses Leben einzudringen und es aus nächster Nähe zu studieren, vorbehaltlos, ohne tönende Phrasen, ohne schafsköpfige Wehleidigkeit, in all seiner seltsamen Einfachheit und alltäglichen Sachlichkeit. Ach, was für ein gewaltiges, erschütterndes und ehrliches Buch könnte das werden!«
»Man schreibt doch darüber«, warf Ramses unwillig ein.
»Man schreibt darüber«, ging Platonow gelangweilt auf seinen Ton ein. »Aber das ist alles entweder Lüge oder theatralischer Effekt für kleine Kinder oder verzwickte Symbolik, die nur die Weisen der Zukunft verstehen. An das Leben selbst hat noch keiner gerührt. Ein großerSchriftsteller [8] – ein Mensch mit kristallklarer Seele und großem gestalterischem Talent – hat sich einmal diesem Thema genähert, und alles, was das Auge eines Außenstehenden erfassen kann, fand in seiner Seele Widerhall wie in einem wunderbaren Spiegel. Aber lügen und die
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