Das sündige Viertel
hier ist mühevoll, und ein ehrbares Alter hat sie auch. Aber nein: da muß noch ein Tausender zurückgelegt werden, und noch einer und immer noch einer – alles für Bertotschka. Bertotschka hat Pferde, Bertotschka hat eine englische Gouvernante, Bertotschka reist jedes Jahr ins Ausland, Bertotschka hat Brillanten für vierzigtausend Rubel – der Himmel weiß, woher die stammen, diese Brillanten! Und ich bin nicht nur überzeugt, sondern ich weiß genau, daß für das Glück dieser Bertotschka, nein, nicht einmal für das Glück, sondern, nehmen wir mal an, wenn Bertotschka am Fingerchen einen Niednagel hätte, dafür, daß dieser Niednagel verschwände – stellen Sie sich für einen Moment die Möglichkeit dieses Sachverhalts vor! –, daß Anna Markowna dafür, ohne mit der Wimper zu zucken, unsere Schwestern und Töchter zur Schändung verkaufen, uns alle und unsere Söhne mit Syphilis infizieren würde. Ein Ungeheuer, sagen Sie? Und ich behaupte, ihr Antrieb ist die gleiche große, unvernünftige, blinde, egoistische Liebe, um derentwillen wir alle unsere Mütter Heilige nennen.«
»Sachte, sachte!« preßte Boris Sobaschnikow zwischen den Zähnen hervor.
»Pardon: ich habe nicht Menschen verglichen, sondern lediglich den Ursprung eines Gefühls verallgemeinert. Ebenso könnte ich als Beispiel die selbstlose Liebe von Muttertieren anführen. Aber ich sehe schon, das Thema langweilt Sie. Lassen wir es lieber.«
»Nein, sprechen Sie zu Ende«, widersprach Lichonin. »Ich spüre, daß Sie auf einen ganz bestimmten Gedanken hinauswollen.«
»Und zwar auf einen sehr einfachen. Der Professor hat mich vorhin gefragt, ob ich das Leben hier nicht etwa mit schriftstellerischem Interesse beobachte. Ich wollte nur deutlich machen, daß ich zwar zum Sehen tauge, nicht aber zum Beobachten. Ich habe Ihnen als Beispiele Simeon und die Puffmutter genannt. Ich weiß nicht, warum, doch ich fühle, daß sich in ihnen eine grausige, unüberwindliche Lebensrealität verbirgt, aber ich bin nicht imstande, diese durch Erzählen sichtbar zu machen – das ist mir nicht gegeben. Dazu braucht man das große Talent, eine Einzelheit herauszugreifen, ein winziges, flüchtiges Detail, aus dem sich die schreckliche Wahrheit ergibt, so daß dem Leser vor Entsetzen der Mund offen bleibt. Die Leute suchen das Grauenvolle in Worten, in Schreien, in Gesten. Ich lese beispielsweise die Beschreibung eines Pogroms oder einer Mißhandlung im Gefängnis oder der Niederschlagung eines Aufstands. Natürlich werden da die Polizisten beschrieben, diese Diener der Willkür, dieseOpritschniki [6] von heute, die bis zu den Knien im Blut waten, oder wie heißt es sonst noch in solchen Fällen? Natürlich weckt das Entrüstung und Schmerz und Ekel, aber über den Verstand, nicht im Herzen. Und dann gehe ich eines Morgens die Lebjashja-Straße entlang und sehe eine Menschenansammlung und mittendrin ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren, das hat wohl seine Mutter verloren und sich verirrt, oder vielleicht hat die Mutter es auch im Stich gelassen. Vor dem Mädchen kauert ein Polizist. Er fragt es aus: wie es heißt, wo es herkommt, wie der Papa heißt und wie die Mama heißt. Er schwitzt vor Eifer, der Ärmste, die Mütze ist ihm in den Nacken gerutscht, sein großes schnurrbärtiges Gesicht sieht so gutmütig aus, so mitleidig und hilflos, und seine Stimme klingt ganz, ganz freundlich. Und schließlich, was meinen Sie? Weil die Kleine schon ganz durcheinander ist und heiser vom Weinen und weil sie vor allen Leuten Angst hat – da streckt er, dieser ›allmächtige Schutzmann‹, zwei seiner schwarzen, schwieligen Finger aus, Zeigefinger und kleinen Finger, und spielt dem Mädchen was vor! ›Ziegenböckchen hat zwei Hörnchen …‹ Ja, und als ich diese niedliche Szene sah und daran denken mußte, daß derselbe Schutzmann eine halbe Stunde später auf dem Polizeirevier mit den Füßen einem Menschen ins Gesicht und auf die Brust trampeln würde, den er vorher nie im Leben gesehen hat und dessen Vergehen ihm ganz unbekannt ist, da – begreifen Sie! – überkam mich unaussprechliches Grauen und Weh. Nicht über den Verstand, sondern im Herzen. So teuflisch verrückt ist dieses Leben. Trinken Sie noch einen Kognak mit, Lichonin?«
»Wollen wir uns nicht duzen?« schlug Lichonin plötzlich vor.
»Meinetwegen. Aber ohne Küsserei, ja? Auf dein Wohl, mein Lieber … Oder noch ein anderes Beispiel. Ich lese, wie ein französischerKlassiker [7] die
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