Das sündige Viertel
›gewesen‹. Die Epitheta sind nicht treffend. Die Worte erstarren auf dem Papier. Ein einziges Wiederkäuen. Wissen Sie, einmal war Terechow hier auf der Durchreise. Ja, der berühmte Terechow. Ich ging zu ihm und erzählte ihm eine Menge über das hiesige Leben, was ich Ihnen jetzt nicht sage, um Sie nicht zu langweilen. Ich bat ihn, sich dieses meines Materials zu bedienen. Er hörte mir mit großem Interesse zu, und dann sagte er wörtlich: ›Nehmen Sie es nicht übel, Platonow, wenn ich Ihnen verrate, daß es unter den Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, kaum einen gibt, der mir nicht Themen für Romane und Erzählungen angeboten hätte oder mich nicht belehren wollte, worüber man schreiben muß. Das Material, das Sie mir jetzt vermittelt haben, ist geradezu unerschöpflich, was Inhalt und Gewicht betrifft. Aber was soll ich damit anfangen? Um solch ein kolossales Buch zu schreiben, wie es Ihnen vorschwebt, genügen fremde Worte nicht, mögen sie auch noch so genau sein, es genügen nicht einmal Beobachtungen mit Notizbuch und Bleistift. Man muß dieses Leben selbst leben, ohne Hintergedanken und literarische Ambitionen. Dann erst wird es ein aufrüttelndes Buch.‹ Seine Worte haben mich entmutigt und gleichzeitig beflügelt. Seitdem glaube ich daran, daß eines Tages, nicht jetzt, auch nicht so bald, vielleicht in fünfzig Jahren, ein genialer Schriftsteller kommen wird, und zwar ein russischer, der alle Last und alles Elend dieses Lebens auf sich nimmt, in sich einsaugt, und uns zurückgibt in Form schlichter, genauer und unsterblicher erschütternder Gestalten. Und dann werden wir alle sagen: ›Aber das haben wir doch alles gesehen und gewußt, nur konnten wir uns einfach nicht vorstellen, daß es so schrecklich ist!‹ An diesen Künstler der Zukunft glaube ich von ganzem Herzen.«
»Amen!« sagte Lichonin ernst. »Trinken wir auf ihn.«
»Mein Gott, ja«, entfuhr es plötzlich der Kleinen Manka. »Wenigstens einer sollte mal die Wahrheit schreiben, wie wir hier leben, wir unglückseligen Huren …«
Es klopfte, und im gleichen Moment kam Shenja herein in ihrem glänzenden orangefarbenen Kleid.
10
Ungezwungen, in der freien Haltung der ersten Dame des Hauses, begrüßte sie alle anwesenden Männer und setzte sich zu Sergej Iwanowitsch, hinter seinen Stuhl. Sie hatte sich eben erst von jenem Deutschen in der Uniform einer Wohltätigkeitsgesellschaft frei gemacht, dessen Wahl am frühen Abend auf die Blonde Manja gefallen war, die er später, auf Empfehlung der Verwalterin, gegen Pascha vertauscht hatte. Aber die herausfordernde und selbstsichere Schönheit Shenjas mußte sein unzüchtiges Herz doch sehr beeindruckt haben, denn nachdem er an die drei Stunden durch alle möglichen Bierkneipen und Restaurants gebummelt war und sich dort Mut angetrunken hatte, kehrte er wieder in Anna Markownas Haus zurück, wartete ab, bis der eine Kurzbesucher – Karl Karlowitsch aus dem Optikerladen – Shenja verließ, und holte sie sich aufs Zimmer.
Auf Tamaras wortlose, nur mit den Augen gestellte Frage verzog Shenja angewidert das Gesicht, schüttelte sich leicht und nickte mit dem Kopf.
»Ist weg … Brr!«
Platonow beobachtete Shenja außerordentlich aufmerksam. Unter allen Mädchen galt seine Vorliebe ihr, er empfand beinahe so etwas wie Verehrung für ihr schroffes, unbeugsames und herausfordernd spöttisches Wesen. Jetzt, während er sich ab und zu nach ihr umdrehte, spürte er an ihren flammenden schönen Augen, an der ungesunden Röte, die grell und ungleichmäßig auf ihren Wangen flackerte, an ihren blutig gebissenen Lippen, daß ein starker, lange angestauter Zorn in dem Mädchen gärte und sie würgte. Ihm kam der Gedanke (und er erinnerte sich später oft daran), daß er Shenja niemals so strahlend schön gesehen hatte wie in dieser Nacht. Er bemerkte auch, daß außer Lichonin alle anwesenden Männer – manche offen, manche heimlich und wie zufällig – sie voller Neugier und mit unterdrücktem Begehren ansahen. Die Schönheit dieser Frau, verbunden mit dem Gedanken, daß sie jederzeit ohne besondere Anstrengung zu haben war, erregte ihre Phantasie.
»Mit dir stimmt doch was nicht, Shenja«, sagte Platonow leise.
Sie strich zärtlich, ganz flüchtig nur, mit den Fingern über seine Hand.
»Mach dir keine Sorgen. Nur so … unsere Weiberangelegenheiten … Nichts für dich.«
Doch im nächsten Moment wandte sie sich an Tamara und sagte leidenschaftlich und schnell etwas im
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