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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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Menschen erschrecken wollte er nicht. Er betrachtete nur das Haar des Portiers, störrisch wie Hundefell, und dachte: Und auch dieser hat doch gewiß eine Mutter gehabt! Er ließ seinen klugen, gründlichen Blick über die Gesichter der Prostituierten gleiten und gestaltete sie nach. Doch was er nicht kannte, wagte er nicht zu beschreiben. Es ist bemerkenswert, daß ebendieser Schriftsteller, dessen Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit so bestechen, mehr als einmal auch mit der Bauernschaft geliebäugelt hat. Aber er spürte, daß sowohl Sprache als auch Denkweise und Seelenleben des einfachen Volkes für ihn dunkel und unverständlich blieben. Und so hat er die Volksseele bescheiden und mit erstaunlichem Taktgefühl ruhen lassen und den ganzen Vorrat seiner wunderbaren Beobachtungen durch das Prisma städtischer Menschen gebrochen. Ich erwähne das absichtlich. Bei uns, sehen Sie, schreibt man über Detektive und Advokaten, über Steuerinspektoren, über Pädagogen, Staatsanwälte, über die Polizei, über Offiziere, über sinnenfreudige Damen, über Ingenieure, über Baritonsänger – und man schreibt durchaus gut, bei Gott, klug, feinfühlig und talentiert. Aber alle diese Leute sind doch nur Kehricht, und ihr Leben ist kein Leben, sondern ausgeklügelter, gespenstiger, überflüssiger Fieberwahn der Weltkultur. Doch es gibt zwei seltsame Realitäten, so alt wie die Menschheit selbst: die Prostituierte und den Bauern. Über sie wissen wir nichts, abgesehen von einigen spielerischen, blattgoldverzierten Genrebildern, einigen Knusperhäuschen-Schilderungen in der Literatur. Ich frage Sie: Was hat die russische Literatur aus dem ganzen Wust der Prostitution herausgefiltert? Einzig und allein die SonetschkaMarmeladowa [9] . Und was hat sie über den Bauern gebracht, außer elenden, verlogenen volkstümlerischen Pastoralen? Ein Werk, ein einziges nur, ein großartiges Werk der Weltliteratur allerdings – eine erschütternde Tragödie, deren Wahrhaftigkeit einem den Atem verschlägt und die Haare zu Berge stehen läßt. Sie wissen, wovon ich spreche …«
    »›Die Macht der Finsternis‹ [10] «, sagte Lichonin leise.
    »Ja«, antwortete der Journalist und sah den Studenten dankbar an.
    »Nun, was Sonetschka betrifft, so ist sie doch ein abstrakter Typ«, bemerkte Jartschenko selbstsicher. »Sozusagen ein psychologisches Schema …«
    Platonow, der bis jetzt widerwillig und stockend geredet hatte, ereiferte sich auf einmal: »Hundertmal hab ich das schon gehört, hundertmal! Und es stimmt überhaupt nicht. Hinter dem ordinären Beruf, hinter unflätigen Worten, hinter betrunkenem, abscheulichem Äußeren verbirgt sich dennoch die ganze lebendige Sonetschka Marmeladowa! Das Schicksal einer russischen Prostituierten – oh, das ist ein tragischer, beklagenswerter, blutiger, lächerlicher und törichter Lebensweg! Hier kommt alles zusammen: der russische Gott, die russische Weite und der Leichtsinn, die russische Verzweiflung über das Gefallensein, russische Kulturlosigkeit, russische Naivität, russische Geduld, russische Schamlosigkeit. Sie alle, die von Ihnen ins Bett genommen werden – schauen Sie sie an, schauen Sie sie gut an! –, sie alle sind doch Kinder, kaum älter als elf Jahre. Das Schicksal hat sie auf den Weg der Prostitution gestoßen, und seitdem leben sie in einer eigentümlichen Märchen- und Spielzeugwelt, ohne sich weiterzuentwickeln, ohne ihre Erfahrungen zu erweitern, naiv, zutraulich, launisch, sie wissen nicht, was sie in einer halben Stunde sagen und tun werden – ganz wie Kinder. Diese lichte und lächerliche Kindlichkeit habe ich bei den verkommensten, ältesten Dirnen gesehen, die schon abgerackert waren wie Schindmähren. Und niemals erstirbt in ihnen dieses ohnmächtige Mitleid, dieses nutzlose Mitgefühl gegenüber menschlichem Leiden. Zum Beispiel …«
    Platonow ließ seinen Blick langsam über die Umsitzenden gleiten, und plötzlich winkte er mit der Hand ab und sagte müde: »Ach was … zum Teufel damit! Ich habe heute schon für zehn Jahre im voraus geredet. Und es führt doch zu nichts.«
    »Aber Sergej Iwanowitsch, wirklich, warum sollten Sie nicht versuchen, dies alles selbst zu beschreiben?« fragte Jartschenko. »Ihre Aufmerksamkeit konzentriert sich so lebhaft auf diese Frage.«
    »Ich hab's versucht!« antwortete Platonow mit unfrohem Lächeln. »Aber es gelingt nicht. Ich beginne zu schreiben und verheddere mich gleich in allen möglichen ›was‹ und ›welcher‹ und

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