Das Syndikat der Spinne
brauch Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Aber diese Bilder von vorhin, die werd ich so schnell nicht los. Vor allem das Mädchen. Wer ist so kalt und gefühllos, ein Kind umzubringen? Ich meine, bei Triebtätern kann ich das noch nachvollziehen, aber in diesem Fall … Das will einfach nicht in meinen Kopf rein.«
»Sieh’s mal von der andern Seite«, sagte Hellmer. »Was hätte das Mädchen noch vom Leben gehabt, wenn sie die einzige Überlebende gewesen wäre? Wer hätte sich um sie gekümmert? Und wie wäre sie damit fertig geworden? Sie hätte immer die Bilder vor Augen gehabt, wie ihre Familie umgebracht wurde. Für uns ist wichtig rauszukriegen, seit wann genau Andrejew in Deutschland war, wie er hergekommen ist und was er vorher gemacht hat. Und du rufst am besten heute mal bei deinem Vater an und kotzt dich bei ihm aus. Einverstanden? Tu’s dir zuliebe.«
»Ach Mensch, Frank. Wenn bei der Polizei nur lauter solche Typen wie du arbeiten würden. Ich bin froh, dass ich dich als Partner habe, und das meine ich ehrlich. Es heißt ja immer, Freundschaften zwischen Männern und Frauen gibt es nicht, aber wir sind doch Freunde, oder?«
»Du bist mein bester Freund«, sagte Hellmer ernst. »Oder von mir aus auch Freundin. Wenn du nicht bei der Meute wärst, hätte ich den Job schon längst an den Nagel gehängt.«
»Und Kullmer hat sich in der letzten Zeit auch gewaltig gemacht. Ich glaube, ich werde ihm bald mal das Du anbieten. Ich komm mit ihm immer besser zurecht. Und Berger, dass der mit dem Saufen aufgehört hat, kann ich noch immer nicht glauben. Der hat sich richtig gefangen. Dabei war ich vor einem Jahr noch fest überzeugt, der überlebt die nächsten zwei oder drei Jahre nicht. Er säuft nicht mehr, er nimmt allmählich ab, er ist so richtig cool drauf, wie’s so schönneudeutsch heißt. Unsere Abteilung ist eine richtig verschworene Gemeinschaft geworden.«
»Und genau deshalb haben wir solche Erfolge aufzuweisen. Und genau deshalb werden wir auch diesen Fall knacken. Auch wenn’s dauert. Aber du wirst immer meine beste und liebste Freundin bleiben.«
»Schleimer.«
»Dumme Pute«, sagte Hellmer grinsend.
»Nimm sofort das dumm zurück, du alter Esel.«
»So gefällst du mir schon wieder besser. Und jetzt gehen wir hoch, geben einen kurzen Bericht ab und machen uns aus dem Staub. Ich hab nämlich für heute die Schnauze gestrichen voll.«
Sie stiegen langsam die Stufen nach oben, der Gang war fast leer, ihre Schritte hallten von den alten Wänden wider. Berger saß nicht hinter seinem Schreibtisch, er war mit allen anderen Kollegen der Mordkommission, vom OK und dem SEK im Besprechungszimmer. Julia Durant und Frank Hellmer stießen zu ihnen, setzten sich und hörten sich an, wie die Planung für den Abend aussah. Sie beugte sich zu Hellmer und flüsterte ihm ins Ohr: »Das können die sich alles sparen, die finden nichts.«
»Hab ich doch vorhin schon gesagt.«
Der Schlag gegen die Bordelle sollte um genau dreiundzwanzig Uhr geführt werden. Für den Einsatz standen insgesamt sechsundfünfzig Beamte zur Verfügung, darunter vierzig Polizisten des SEK. Jeder der SEK-Beamten hatte eine Nahkampfausbildung absolviert und konnte exzellent mit Waffen umgehen. Und jeder von ihnen war in der Lage, mit einem einzigen Schlag einen Menschen zu töten. Den wenigsten sah man ihre Fähigkeiten an, aber Durant kannte einige von ihnen und wusste, dass sie in bestimmten Situationen alles andere als zimperlich waren.
Nach der Besprechung bat Berger Durant und Hellmer in sein Büro.
»So, jetzt erzählen Sie mal in aller Ruhe, was Sie heute Nachmittag erlebt haben.«
Durant überließ Hellmer das Reden. Er gab einen kurzen, aber inhaltsreichen Bericht ab und sagte abschließend, dass er jetzt nach Hause fahre. Berger meinte, sie sollten beide für heute Schluss machen und versuchen, das Erlebte so schnell wie möglich zu vergessen. Julia Durant entgegnete daraufhin mit ungläubigem Blick: »Vergessen? So was kann man nicht vergessen. Sie waren nicht dabei, und Sie haben so etwas vermutlich noch nie …«
Berger unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Frau Durant, ich habe so etwas auch schon gesehen, ’94 in diesem Bordell im Kettenhofweg. Da waren es sechs Leichen, wenn Sie sich noch erinnern können. Damals hat es sich nur um eine harmlose Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bordellbesitzer und seinem russischen Lieferanten gehandelt, der ihm die Mädchen besorgt hat. Aber spätestens seitdem weiß ich,
Weitere Kostenlose Bücher