Das Syndikat der Spinne
einfiel. Sie sah sich die Tatortfotos an, die bei Wiesner und Maric gemacht wurden, las noch einmal den Autopsiebericht von Wiesner und Puschkin sowie den Bericht der Spurensicherung und der Ballistiker. Es war kurz vor fünf, Hellmer und Kullmer hatten das Präsidium bereits verlassen, um zu dem Polizeigebäude in der Gutleutstraße zu fahren, wo unter anderem die Abteilung für Organisierte Kriminalität saß, als sie das Heft von Natascha Olpitz in die Hand nahm. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war. Sie steckte das Heft in ihre Tasche, stand auf, verabschiedete sich von Berger, warf noch einen letzten Blick in das Büro von Güttler und Wilhelm, die ihr kurz mitteilten, dass sie mit der Vita der Maric bald fertig seien, und ging langsam und mit müden Schritten nach unten zu ihrem Wagen. Von unterwegs aus rief sie bei Kuhn an und fragte ihn, wann er nach Hause komme. Eskönne spät werden, sagte er, er habe gerade eben eine Meldung über einen Großbrand in Kelsterbach auf den Tisch gekriegt und müsse sofort dorthin. Sie wollte ihm von dem Mord an Helena Maric erzählen, ließ es dann aber. Das hatte auch noch Zeit bis zum Abend. Im Supermarkt unweit ihrer Wohnung kaufte sie einige Lebensmittel, Süßigkeiten, Chips, Bier und Zigaretten.
Um halb sechs kam Julia Durant zu Hause an, stellte die Tüten auf den Tisch und packte alles an den vorgesehenen Platz. Nachdem sie damit fertig war, holte sie eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, leerte sie in einem Zug, legte sich auf die Couch und schlief sofort ein.
Mittwoch, 16.20 Uhr
Redaktion der
Bild
-Zeitung in Neu-Isenburg.
Kuhn hatte soeben einen Artikel für die Freitagsausgabe fertig gestellt. Er streckte sich, zündete sich eine Zigarette an und beschloss seinem Freund Peter Schulze einen kurzen Besuch in dessen Büro abzustatten. Er saß vor seinem Computer und tippte in einer Geschwindigkeit, die jeder Chefsekretärin zur Ehre gereicht hätte.
»Darf ich reinkommen?«, fragte Kuhn.
»Klar, aber lass mich nur schnell den Absatz zu Ende bringen.«
Kuhn setzte sich und hörte dem monotonen Tippen zu. Schulze speicherte den Text, drehte sich mit dem Stuhl und stützte sich mit beiden Armen auf dem Schreibtisch auf.
»Kommst du voran?«, fragte Kuhn.
»Denk schon. Ich lieg jedenfalls in den letzten Zügen«, antwortete Schulze grinsend. »Nachher noch den Termin, morgen geb ich den Rest in den PC, und dann schaun wir mal, was der Chef so dazu sagt.«
»Hast du wirklich keine Angst, dass die ihre Drohungen wahr machen könnten? Ich meine, du nennst die Dinge ja beim Namen, du nennst sogar Personen. Ich halte das für sehr gefährlich.«
»Ach was«, winkte Schulze ab, »warum soll das gefährlich werden? Diese Kerle interessiert das doch gar nicht. Aber die Leser erfahren ein bisschen mehr über das organisierte Verbrechen. Es sind ganze Bücher darüber geschrieben worden, von Lindlau zum Beispiel, und der lebt immer noch. Und der hat auch kein Blatt vor den Mund genommen. Ich bin doch nur ein kleiner Journalist. Mach dir mal keine Gedanken um mich. Ich hatte zwar erst gestern wieder einen anonymen Anruf, in dem mir gedroht wurde, dass ich, sollte die Serie erscheinen, ein toter Mann bin, aber das ist, wie ich schon sagte, Säbelrasseln, mehr nicht. Ich hab ihn gefragt, woher er weiß, dass ich an einer Serie schreibe, und da hat er einfach aufgelegt. Sei’s drum.«
»Mit wem triffst du dich denn?«
»Ein Promi-Zahnarzt, das hab ich doch schon erzählt. Mehr wird aber nicht verraten. Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass er seit Jahren an die Tschetschenen zahlt, wie vermutlich die meisten russischen Zahnärzte. Es gibt da so einen Kleinkrieg zwischen den Russen und Tschetschenen.«
»Und was heißt das konkret?«
»Ich hab eigentlich gar nicht so viel Zeit, das alles zu erklären. Aber ums kurz zu machen, die Tschetschenenmafia beherrscht zu einem großen Teil Moskau. Die lassen sich das natürlich nicht gefallen und schlagen zurück. Und du darfst dreimal raten, wie die das tun.« Schulze sah Kuhn lange an, zog die Stirn in Falten, und als Kuhn nichts sagte, fuhr er fort: »Der Krieg in Tschetschenien ist die Rache. Die Russenmafia, die mittlerweile alle wichtigen politischen und militärischen Positionen in Russland kontrolliert, steckt hinter diesem Krieg. Frag mal einen russischen Soldaten, warum dieser Krieg geführt wird, und er wird dir keine plausible Antwort geben können. Zivilisten werden abgeschlachtet oder verhungern oder
Weitere Kostenlose Bücher