Das Syndikat
kalte schwarze Schatten. Es kam ihr merkwürdig still vor, noch immer hatten sich die meisten Menschen in ihren Wohnungen verbarrikadiert. Die Tür war nur angelehnt, sie gab ihr einen Stoß und ging hinein. Sofort fiel der muffige Geruch über sie her.
Unten im Keller schrak sie zurück. Als Erstes fiel ihr das schwarz verschmorte Tastenfeld auf. Und dann der Türspalt.
Lauf, lauf einfach weg, Karen!, meldete sich eine Stimme in ihr. Du musst da nicht rein. Dreh um, steig ins Auto und fahr weg, irgendwohin. Gib auf! Du musst nicht weitermachen! Du musst es nicht!
Es funktionierte nicht. Sie drückte die Tür auf. Dunkelheit schlug ihr entgegen und der Geruch von verschmortem Plastik. Sie tastete nach einem Lichtschalter, flackernd sprang in einer Ecke eine trübe Neonleuchte an.
Oh mein Gott! Wie ein ausgeweideter Wal, dachte sie. Einzig die blauen Wände waren noch da, Drähte ragten wie abgerissene Adern aus dem Putz heraus, Computer, Monitore waren verschwunden, selbst die Espressomaschine war nicht mehr da.
»Schön, dass wir uns wiedertreffen, Mrs. Burnett.«
Sie fuhr herum, die leise Stimme kannte sie doch.
»Auch wenn Sie unsere Abmachung nicht eingehalten haben, sind wir dennoch hier.«
Der Agent von der SE wirkte in der fahlen Beleuchtung noch grauer als damals im Auto. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht, er trug einen schwarzen Regenmantel über dem grauen Anzug. Jetzt sah sie ihn zum ersten Mal von vorn. Sein Gesicht war rundlich, ohne richtiges Kinn, und seine Lippen sahen aus wie zwei glänzende Wülste.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, sie gab sich so gelassen wie möglich, »hier ist doch nichts.«
»Sie sind eine schlechte Lügnerin, Mrs. Burnett.« Sein Lächeln war falsch. »Jens Nyström selbst hat uns von Ihren Besuchen hier bei Lanzelot erzählt.«
Er bluffte, oder? Nyström war keiner, der sich dem Geheimdienst anvertraute. Lanzelot war ein Projekt der CIA. Jetzt manipulieren es die Chinesen. Nyström ist unwichtig.
Trotzdem, das Gefühl, ausgeliefert zu sein, kroch schon wieder in ihr hoch, breitete sich aus in ihr wie ein lähmendes Gift.
»Diesmal hat er Sie getäuscht«, redete der Mann weiter. »Ich habe Sie vor ihm gewarnt. Ach ...«, er griff in die Tasche seines Regenmantels, und Karen zuckte zurück, sie erwartete eine Pistole, aber er ließ die Hand einfach stecken, »... wir sind ihm ein bisschen entgegengekommen. Er war in Schwierigkeiten, um es vorsichtig auszudrücken. Sein Alibi zur Zeit des Mordes an seiner Frau ist zusammengebrochen. Die Entlastungszeugin hat ihre Aussage widerrufen.« Seine flüsternde Stimme klang triumphierend.
»Ich glaube Ihnen nicht.« Das war nur ein billiger Trick, endlich kehrte die Wut zurück. Sie würde sich nicht täuschen lassen. Nyström ist kein Mörder, sagte sie sich, daran würde sie glauben.
Spöttisch hob er einen Mundwinkel, nein, nicht spöttisch, grausam, dachte Karen.
»Wir haben ihm einen Neuanfang angeboten, und er hat unser Angebot angenommen. Er wird für uns arbeiten.«
Sie glaubte ihm kein Wort. »Schön für Sie. Was wollen Sie dann noch von mir?«
»Mich von Ihnen verabschieden.«
»Was Sie hiermit getan haben.«
Er machte Anstalten zu gehen, blieb dann aber stehen. »Wir behalten Sie im Auge, Mrs. Burnett.« Sein Regenmantel blähte sich auf, als er sich umdrehte und ging.
Langsam folgte sie ihm nach draußen. Alles war unwirklich geworden. Selbst das Licht wirkte so. Es hatte sich von einem Gelb in ein schwefliges Ocker verdunkelt, und in der Luft lag wieder der Geruch von Schnee.
Wie mechanisch fuhr sie los, bremste, hupte, fuhr an – und spürte, wie sie sich immer weiter von sich selbst entfernte. Schließlich bog sie in eine Einfahrt ein und stellte den Motor ab.
»Was mach ich nur, Gibbs?« Ich bin am Ende. Hat meine Mom doch recht? Was ist los mit mir? Werde ich verrückt? Oder bin ich es schon?
Und dann dachte sie an Nyström, und es fühlte sich an, als könnte er der einzige Mensch sein auf der Welt, der sie verstehen würde.
96
Den Haag
Zum Leiter des Ausschusses zitiert zu werden, bedeutete in der Regel, man erhielt ein neues Briefing oder man erntete Lob oder Tadel. Anna Scarafia erwartete eine Stellungnahme zu ihrem Bericht, den sie noch gestern Abend fertiggestellt und weitergeleitet hatte. Das, was sie in dem Brüsseler Apartment gesehen hatte, bewies, dass Grévys vermeintlicher Selbstmord tatsächlich in einem noch umfassenderen Zusammenhang gesehen und die Ermittlungen
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