Das Syndikat
entsprechend ausgedehnt werden mussten. Untersucht werden mussten die genauen Vorgänge im CRSSA , wieso die Sicherheitssysteme versagt hatten, in wessen Verantwortungsbereich das fiel und so weiter. Grenzüberschreitende Ermittlungen gestalteten sich erfahrungsgemäß oft langwierig, bürokratische Hindernisse und nicht nachvollziehbare Erschwernisse führten dazu, dass sie sich nicht selten über Jahre hinschleppten, so lange, dass die Täter genügend Zeit hatten, sich skrupellose Anwälte zu besorgen oder Zeugen einzuschüchtern – bis die Öffentlichkeit nicht nur das Interesse daran verlor, sondern auch noch das Vertrauen in den Europäischen Gerichtshof.
Deshalb, um gewissermaßen zu prüfen, ob wirklich mehr dran war an der Sache, hatte sie, Anna Scarafia, eine kleine Abkürzung genommen, hatte sich auf unbürokratische Weise Informationen verschafft, vorab sozusagen, und jetzt konnten alle notwendigen und juristisch einwandfreien Schritte eingeleitet werden.
Aber nun saß sie in ihrem kurzen, betont schlicht geschnittenen schwarzen Wollkleid vor ihrem Chef, James T. Ashley, dem teigigen Engländer mit fliehendem Kinn und rötlich fleckiger Haut, und bemühte sich um Fassung.
Schon sein Blick, nachdem sie sein Büro betreten hatte, hatte ihr klargemacht, dass er ihren Bericht nicht mit Begeisterung aufgenommen hatte. Und jetzt erklärte sie ihm zum wiederholten Mal, was sie längst schriftlich dargelegt hatte.
»Aber es hängt alles zusammen. Der Anschlag mit den Pestbakterien und Oberst Grévy ...«
»Liebe Anna«, unterbrach er sie, als Engländer pflegte er alle beim Vornamen zu nennen, und schickte ein joviales Lächeln hinterher, »ich bitte Sie, Sie werden doch nicht auch eine Anhängerin dieser überall herumspukenden Verschwörungstheorien sein! Ich habe Sie immer für eine sehr vernünftige, sachliche Juristin gehalten, deren Urteil frei ist von ...«, er machte eine ausholende Handbewegung, »... von verrückten Spekulationen. Also, bitte, beweisen Sie mir jetzt nicht, dass ich mich in Ihnen getäuscht habe!«
»James, wir können unmöglich die Tatsache ignorieren, dass der Mietwagenvertrag, den wir bei einem der Toten in dem Brüsseler Apartment des Lobbyisten ...«
»Bitte, Anna«, er hob die Hände, »das sind doch alles Indizien, deren Relevanz oder Zugehörigkeit zu unserem alten Fall in keinster Weise bewiesen ist.«
»Der Fall ist nicht alt, er ist ...«
»Er ist alt – und kalt«, fiel er ihr ins Wort. »Es gibt keinen Fall mehr, Anna. Die Beteiligten sind tot. Aus welchen Gründen auch immer. Diese Gründe fallen nicht in unseren Zuständigkeitsbereich. Um die einzelnen Todesfälle haben sich die jeweils zuständigen Polizeiabteilungen der entsprechenden Länder gekümmert, das wissen Sie genauso gut wie ich. Und keiner der Beamten, ob es französische, belgische, niederländische oder deutsche Polizisten waren, haben irgendetwas ...«, er rollte die Augen mit den schweren Tränensäcken, »... irgendetwas Seltsames gefunden. Die Männer hatten Stress in Afghanistan, sie litten unter dem bekannten posttrauma–«
»James!« Diesmal musste sie ihm ins Wort fallen. »Gerade das habe ich Ihnen doch in meinem Bericht deutlich zu machen versucht: Wenn man die einzelnen Fälle isoliert betrachtet, findet man auch nicht unbedingt etwas Merkwürdiges, außer dass die Opfer zu jung waren für einen Herzinfarkt oder einen Hirnschlag. Dieser Fall muss als Ganzes betrachtet werden.«
Seine Lippen schienen zu verschwinden, als er sie zusammenpresste. »Anna«, sagte er, und er klang erschöpft, »es gibt keinen Fall mehr. Wir werden keine weiteren Steuergelder verschwenden, um einer Chimäre hinterherzulaufen.«
»Chimäre nennen Sie ...«, entrüstete sie sich.
»Ja, eine Chimäre. Eine Täuschung. Eine Fata Morgana! Das ist – paranoid! Im Übrigen muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tätigkeit für diese Abteilung ab sofort beendet ist.« Er schob ihr ein Schreiben zu.
Scarafia hatte mit Sanktionen oder Strafen gerechnet, mit dem Abzug ihres Assistenten oder mit zusätzlichen Aktenrecherchen irgendwelcher alter Fälle, aber an eine Abschiebung, nein, daran hatte sie nicht gedacht.
»Das ist nicht Ihr Ernst, James.« Ihr Hals war plötzlich trocken.
»Es tut mir leid, es war nicht meine Entscheidung. Wir brauchen Sie bei der Prozessvorbereitung in der Strafsache Kravic.« Er betrachtete seine auf dem Schreibtisch gefalteten Hände.
Abrupt schob sie ihren Stuhl nach hinten
Weitere Kostenlose Bücher