Das System
einmal unter die Augen trete.«
Das Boot der Nörenbergs lag ordentlich vertäut inmitten einer großen Menge Jollen und mittelgroßer Segelboote, mit denen die
nicht ganz so Schönen und nicht ganz so Reichen von Sylt durch das Wattenmeer pflügten. Es war eine Dehler Optima, eine elegante
Zehn-Meter-Yacht aus den achtziger Jahren, die nach mehr als zwei Jahrzehnten immer noch wie |309| neu aussah. Sie war der ganze Stolz von Herrmann Nörenberg. Am Heck war in geschwungenen Lettern der Name des Bootes aufgemalt:
»Julia«.
Mark kannte den alten Hafenmeister schon seit seinen Sylt-Besuchen als Kind und winkte ihm zu. Der Mann winkte zurück.
Eine Persenning aus starkem Segeltuch war über das Achterdeck gespannt und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Außerdem war
das Boot mit einer Kette durch einen Eisenring am Ufer vertäut.
Mark warf einen Blick zum Häuschen des Hafenmeisters, der sich jedoch nicht weiter um die beiden kümmerte. Ohne geeignete
Hilfsmittel brauchte Lisa ein paar Minuten, bis sie die Schlösser mit Hilfe eines Drahtstückchens geknackt und die Persenning
eingerollt hatte. Mark zog seine Schuhe und Strümpfe aus und ging an Bord. Er brachte es nicht übers Herz, das alte Boot mit
Straßenschuhen zu malträtieren. Lisa trug schwarze Turnschuhe, folgte aber dennoch seinem Beispiel.
Der Geruch von Segeltuch und Holzöl empfing Mark wie ein alter Freund und weckte Erinnerungen an Segelausflüge mit seinen
Eltern. Trotz aller Schwierigkeiten erfüllte ihn Vorfreude darauf, endlich wieder fast lautlos durch die Wellen zu gleiten,
getrieben nur von der klaren Kraft des Windes, begleitet von den Schreien der Möwen, dem Knarren der Wanten und dem leichten
Flattern der Segel.
Als er begann, die Segel zu setzen, kam der Hafenmeister den Steg entlang.
»Hallo, Mark!«, rief er. Er warf einen merkwürdigen Blick zu Lisa. »Wo ist denn Julia?«
»Das hier ist meine Cousine Lisa«, erklärte er. »Julia kommt mit ihren Eltern morgen nach. Ich wollte nur schnell einen kurzen
Törn machen, solange das Wetter noch hält.« Er warf einen Blick zum Himmel, an dem sich im Westen, über dem Meer, hohe Wolkentürme
zusammenballten. »Sie wissen ja, |310| mein Schwiegervater legt großen Wert darauf, dass das Boot regelmäßig bewegt wird.«
Der Hafenmeister sah Mark misstrauisch an. »Dr. Nörenberg ruft doch sonst immer an und sagt mir Bescheid, bevor er kommt!«
Mark setzte eine überraschte Miene auf. »Hat er das nicht getan? Er hat mir gesagt … na, egal. Ist eben auch nicht mehr der
Jüngste, der Herr Richter.« Er grinste.
Der Hafenmeister nickte. »Okay. Aber ihr solltet euch beeilen«, sagte er. »Für heute Abend ist schlechtes Wetter angesagt.
Mindestens sieben bis acht Windstärken. Könnte ungemütlich werden.«
»Keine Sorge. In einer Stunde sind wir wieder da.«
»Wollt ihr was zu trinken mitnehmen? Ich habe gerade Flens im Angebot …«
»Nein danke.«
»Na denn, Mast- und Schotbruch!« Der Hafenmeister winkte ihnen noch einmal zu und verschwand dann wieder in seinem Häuschen.
Mark steuerte das Boot aus dem engen Hafen, ohne den Außenborder zu benutzen. Lisa war zwar nicht so oft gesegelt wie er,
stellte sich aber sehr geschickt an. Bald hatten sie die Hafeneinfahrt hinter sich gelassen und glitten hinaus auf die weite,
offene Nordsee.
Als sie nicht mehr in der engen Fahrrinne kreuzen mussten und Mark das Boot bequem ohne Vorschoter manövrieren konnte, zog
sich Lisa unter Deck zurück. »Der Laptop hat für ungefähr drei Stunden Strom«, rief sie von unten herauf. »Ich weiß nicht,
ob ich damit auskomme.«
»Versuch, was du kannst«, rief Mark ihr über das Flattern der Segel zu. »Ich werde rauf nach Dänemark segeln. Dort können
wir uns vielleicht ein kleines Hotel nehmen oder so.«
Er steuerte das Boot durch die Wellen, die auf offener See etwa einen Meter hoch waren und erste Schaumkronen trugen. Der
Wind blies stetig mit etwa fünf Windstärken – |311| ideale Bedingungen für das Boot. Mark hielt einen Kurs bei halbem Wind in nördlicher Richtung, parallel zur Küstenlinie. Er
hoffte, dass Lisa seefest war – das Boot legte sich unter dem Druck des Windes erheblich auf die Seite. Wie sie unter diesen
Bedingungen vernünftig arbeiten konnte, wusste er nicht.
Nach etwa zwei Stunden sah er im Osten, aus Richtung der Küste, einen Hubschrauber auf sie zukommen. Er blickte in den Himmel.
Die Wolkentürme hatten sich
Weitere Kostenlose Bücher