Das System
Blick frei auf ein |356| Stück Weltraum – mattschwarz wie Samt und besetzt mit Tausenden winziger, kalter Lichter, die nicht funkelten. Cantoni stockte
der Atem bei diesem Anblick. Durch die Fenster der Station sah man normalerweise nur wenige Sterne, da die leuchtende Erde
sie überstrahlte. Es war das erste Mal, dass er einen ungetrübten Blick auf den Weltraum werfen konnte. Unter anderen Umständen
hätte er sich vielleicht sogar auf einen Weltraumspaziergang gefreut. Aber ein Spaziergang würde das hier ganz sicher nicht
werden.
»Ich verlasse die Station.« Orlov klinkte sein Sicherungsseil an einer Halterung neben dem Schott ein, dann schwebte er hinaus.
Sein Raumanzug überstrahlte die Sterne, als er aus dem Schatten der Station ins grelle Sonnenlicht glitt.
»Ich verlasse die Station«, sagte Cantoni, klinkte sein Sicherungsseil neben dem von Orlov ein und folgte ihm.
Es war ein unglaubliches Gefühl, die Enge und vermeintliche Sicherheit der Station zu verlassen. Cantoni hatte einen dicken
Kloß im Hals. Er war so überwältigt, dass er vergaß, einen der Haltegriffe neben dem Schott zu packen, und ungebremst nach
draußen segelte, bis das Sicherungsseil sich spannte und seinen Gleitflug mit einem Ruck abbremste.
Cantoni versuchte, das übermächtige Gefühl zu verdrängen, dass er der Situation nicht gewachsen war. Er durfte jetzt keinen
Fehler machen. Orlov hatte eine halbe Stunde mit Edwards herumgestritten, der immer noch glaubte, dass einer von ihnen beiden
verrückt war, und ihnen das Verlassen der Station strengstens untersagte. Schließlich hatte der Russe unter Verwünschungen
die Verbindung zur Erde unterbrochen. Seitdem waren sie ganz auf sich allein gestellt.
Über Cantoni füllte die Erde fast das ganze Blickfeld aus. Sie schwebten über dem Atlantik, der in der Mitte von einer scharfen
Linie in Tag und Nacht unterteilt wurde. Unter ihm lag die Station, gleißend hell trotz seines abgedunkelten Helmvisiers.
Er konnte deutlich das große Loch sehen, das der Arm in einen der Solarkollektoren gerissen hatte, und die |357| schreckliche Wunde in der Schaumstoffisolierung an der Seite des Zarya-Moduls.
Sein Gehirn korrigierte die Perspektive, und er sah die Erde als »unten« und die Station als »oben«. Zum ersten Mal seit Wochen
nahm er die Schwerelosigkeit wieder als ein Gefühl des Fallens wahr. Einen Moment musste er die Urangst niederkämpfen, die
in ihm aufstieg. Dann konzentrierte er sich auf ihre Aufgabe. Er zog sich an seinem Halteseil zu der Station hinauf.
Orlov klinkte ein zweites Sicherungsseil an seinem Raumanzug ein, das mit Orlovs Anzug verbunden war. Auf diese Weise hatten
sie beide jeweils zwei Ankerpunkte. Dann hangelten sie sich in Richtung des Roboterarms, der an einem der Sockel ein paar
Meter entfernt an der Außenstruktur der Station verankert war.
Der in Kanada konstruierte Arm besaß sieben Gelenke und an jedem Ende einen Aufsatz mit Steckverbindungen. Die Steckverbindungen
konnten entweder ein hochsensibles Greifwerkzeug – die »Hand« – aufnehmen oder dienten der Kopplung des Arms an die Station.
Durch diese Symmetrie war es möglich, jedes der beiden Enden des Arms an verschiedenen Stellen mit der ISS zu verbinden. Er
war ein hoch flexibles Werkzeug, das tonnenschwere Lasten mit äußerster Präzision bewegen konnte. Mit seiner Hilfe würde es
sehr viel leichter sein, die noch fehlenden Teile der Raumstation zu montieren – falls diese jemals in den Orbit gelangten.
Orlov und Cantoni schwebten zu dem Sockel, an dem der Roboterarm angedockt war. Er war fest verriegelt; es war nicht vorgesehen,
die Verankerung manuell zu lösen.
»Ich schraube, du behältst das Ding im Auge«, sagte Orlov. Cantoni gab ihm das O.K.-Zeichen.
Der Kommandant machte sich mit einem elektrischen Vielzweckwerkzeug daran, die Schrauben der Verkleidung um die Verankerung
zu entfernen. Er wollte zunächst versuchen, die elektrischen Verbindungen zu trennen. Falls das |358| nicht möglich war, weil diese unzugänglich im Inneren der Struktur verliefen, würde er die Verankerung des ganzen Apparates
lösen und ihn von der Station trennen. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als das viele Millionen Dollar teure Werkzeug
von der ISS wegzustoßen, bis es irgendwann von der Atmosphäre so weit abgebremst wurde, dass es abstürzte und verglühte. Wahrscheinlich
würden sie dafür auf der Erde vor Gericht gestellt werden. Aber das war
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