Das System

Stockwerke sein? Er war
     ziemlich aus der Übung und kam schon im dritten Stock aus der Puste. Die Nachwirkungen des gestrigen Abends, die er mit ein
     paar Aspirin am Morgen notdürftig übertüncht hatte, pochten jetzt mit neuer Energie in seinem Schädel, laut und hart wie Ralfs
     Bassdrum.
    Nach dem missglückten Auftritt am letzten Wochenende hatten »Shallow Pink« gestern einen kleineren Gig gehabt, auf der Hochzeitsparty
     eines Freundes. Die Stimmung war großartig gewesen. Wie um die Pleite des letzten Konzerts wettzumachen, hatten die Jungs
     sich richtig ins Zeug gelegt. Anschließend hatte Unger ein paar sehr interessante Einblicke in das Dekolleté einer hübschen
     Blondine werfen dürfen, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte. Irgendwann war der Freund der Kleinen gekommen, und der
     Spaß war vorbei gewesen. Unger hatte sich mit einigen Bieren über die Enttäuschung hinweggetröstet. Und jetzt erwartete |354| man von ihm, dass er Treppenstufen hinaufrannte, statt gemütlich vor dem Fernseher zu sitzen und zuzusehen, wie der HSV die
     Bayern …
    Ein dumpfer Knall hallte durch das Gebäude. Nicht sehr laut, aber Unger erkannte das Geräusch sofort: Ein Schuss war gefallen.
     Er fluchte, ignorierte die bohrenden Kopfschmerzen und hastete weiter. Völlig außer Atem erreichte er den elften Stock. Er
     trat durch die Tür des Treppenhauses in den kleinen Vorflur mit den Aufzügen. Durch das Glas sah er eine kleine Gruppe von
     Menschen zusammenstehen. Unger erkannte den hübschen Rotschopf der Andresen, die Quallenform von Grimes und die schlanke Figur
     der schwarzhaarigen Programmiererin, Lisa Hogert. Ein Typ in schwarzer Ledermontur beugte sich über eine Gestalt, die am Boden
     lag, als wolle er ihr aufhelfen, doch die Pistole in seiner Hand war unverkennbar. Der Verletzte musste Helius sein, und der
     Mann mit der Waffe war offenbar Detlev Schwindt, der sich Diego nannte und sich aus der Untersuchungshaft herausgeschummelt
     hatte. Das würde ihm nicht noch mal gelingen.
    Etwas in der Haltung Diegos ließ Unger spüren, dass er erneut abdrücken würde. Er überlegte nicht lange und schoss.
    Die Glastür zersplitterte. Die Kugel schlug irgendwo in der Bürodecke ein. Natürlich hatte es Unger nicht riskieren können,
     direkt auf Diego zu schießen – dazu standen und lagen zu viele Unschuldige direkt um ihn herum, und er wusste, dass die Kugel
     beim Durchschlagen der Scheibe abgelenkt wurde. Aber wenigstens hatte er Diego von seinem Vorhaben abgelenkt und für den nächsten
     Schuss freies Feld. Sein Gegner allerdings auch.
    Mit erschreckender Geschwindigkeit und Präzision riss Diego die Pistole hoch und drückte ab. Unger hatte keine Zeit mehr,
     sich in einem der Rahmen für die Aufzugtüren in Deckung zu begeben. Er spürte, wie ihn etwas an der rechten Schulter nach
     hinten riss. Er stolperte und fiel um. Seine Dienstwaffe glitt ihm aus der Hand. Einigermaßen irritiert |355| starrte er auf seinen Arm, der nutzlos an ihm herabhing wie eine Prothese. Er spürte nichts, konnte aber weder Finger noch
     Armmuskeln bewegen.
    Ein zweiter Schuss krachte und sandte einen Regen von Glassplittern über Unger. Er konnte das Pfeifen der Kugel hören, die
     knapp über seinem Kopf vorbeizischte und in der Metalltür zum Treppenhaus eine tiefe Einbuchtung hinterließ.
    Der nächste Schuss würde treffen, das wusste er. Er hatte keine Chance mehr, sich in Deckung zu bringen. Er war geliefert.
     Er schloss die Augen und wartete auf das Unausweichliche.

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    87.
    Internationale Raumstation ISS,
    Samstag 14:41 Uhr
    »Raumanzug ist Go«, sagte Cantoni über den Sprechfunk seines Helms, nachdem er geprüft hatte, dass alle Teile an Orlovs Ausrüstung
     richtig verbunden waren. Kurz zuvor hatte Orlov dasselbe bei ihm getan.
    »Ich leite die Dekompression der Schleuse ein«, sagte der Russe. Durch sein goldverspiegeltes Visier konnte Cantoni sein Gesicht
     nicht sehen. Er gab ihm das Daumen-hoch-Zeichen.
    Orlov betätigte eine Kontrolle neben dem Außenschott, und ein Zischen ertönte, das rasch leiser wurde. Die permanent hörbaren
     Hintergrundgeräusche der Station – das leise Rauschen der Lüftung, das nervende Ticken und Knacken, wenn sich Teile der Struktur
     im Sonnenlicht erwärmten oder im Schatten abkühlten – verschwanden völlig. Es gab keine Luft mehr, die sie übertragen konnte.
    »Ich öffne das Außenschott«, sagte Orlov über Funk. Das Metallschott glitt zur Seite und gab den