Das System
Ungers Richtung zu drehen.
Immer noch wagte es der Kommissar nicht zu schießen. Die Gefahr, einen Unschuldigen zu treffen, war zu groß. Diego dagegen
hatte dieses Problem nicht. Ein hämisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, als er einen kurzen Blick in Richtung von Unger
warf.
Dann riss er plötzlich die Augen auf, und sein Mund formte ein überraschtes »Oh«. Aus seinem Hals ragte der Schaft eines zwanzig
Zentimeter langen Brieföffners, den Mary Andresen dort platziert hatte.
|361| Diegos massiger Körper zuckte. Blut quoll aus seinem Mund. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Sein Arm zuckte hoch. Er umfasste
den Brieföffner und zog ihn mit einer fast übermenschlichen Anstrengung heraus. Blut spritzte zur Seite und besudelte den
Fußboden. Er versuchte sich aufzurappeln und gab röchelnde Geräusche von sich.
Unger konnte sehen, dass er keine Luft mehr bekam. Andresen musste seine Luftröhre durchtrennt haben. Sein Gesicht lief blau
an. Er unternahm einen letzten Versuch, die Pistole zu greifen und auf Unger zu richten. Dann brach er zusammen.
»Gut, dass Sie kommen, Herr Kommissar«, sagte Grimes. »Diese Menschen sind hier eingedrungen und haben mich bedroht. Sie wollten
wichtige Geheimnisse …«
»Schnauze!«, schrie Unger.
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89.
Internationale Raumstation ISS,
Samstag 15:40 Uhr
Sie gingen systematisch vor. Orlov benutzte verschiedene Werkzeuge, um einen Sockel nach dem anderen unbrauchbar zu machen.
Das war relativ leicht, da nur eine der offenliegenden Steckverbindungen verstopft werden musste. Der Arm selbst verharrte
währenddessen völlig reglos und ragte in den Weltraum wie der Tentakel eines ausgebleichten Riesenkraken.
Unvermittelt wurde es dunkel um sie. Die Station trat in den Erdschatten ein. Das Meer der Sterne leuchtete plötzlich auf,
als habe Gott die kosmischen Feuer gerade erst entzündet. Die Erde selbst war dort, wo nicht bläulich-graue Wolken die Sicht
verhüllten, ebenfalls eine See aus Lichtern. Cantoni konnte die Umrisse der ostasiatischen Küste anhand der Leuchtkraft der
Städte ausmachen: Auf den japanischen |362| Inseln funkelte Tokio wie das größte Juwel in einem prachtvollen Geschmeide. Auf dem chinesischen Festland waren die Lichtpunkte
weiter verteilt, aber Ballungszentren wie Peking, Shanghai, Zengzhou und Hongkong strahlten umso heller.
Dann geschah etwas Erschreckendes: Ein Teil der Lichter verschwand. Ging einfach aus, als habe jemand einen Schalter umgelegt.
Den Bruchteil einer Sekunde glaubte Cantoni, ein dunkles Objekt habe sich über die Städte geschoben, eine Wolke vielleicht.
Dann setzte sein Verstand ein und machte ihm klar, dass keine Wolke sich so schnell hätte bewegen können. Dort unten war der
Strom ausgefallen. Auf einer Fläche von Zehntausenden von Quadratkilometern. Etliche Millionen Menschen mussten davon betroffen
sein.
Die Lichter waren nicht völlig verschwunden. Immer noch waren die Umrisse der Küste zu erkennen, wenn auch deutlich schwächer.
Ein einzelner Lichtpunkt erschien, heller als alle anderen, glühte orangerot auf und verschwand wieder. Mit einem Schaudern
wurde Cantoni klar, dass das eine Explosion sein musste – eine Explosion, die so gewaltig war, dass man sie aus 360 Kilometern
Höhe deutlich erkennen konnte.
»Was ist da unten los?«, fragte Cantoni.
Orlov sagte nichts. Er hatte sich von der Arbeit an einem der Sockel abgewandt und starrte auf die dunkle Erde hinab.
»Meinst du … meinst du, das hat was mit unserem Computerproblem hier oben zu tun?«
»Blödsinn«, erwiderte Orlov auf Russisch. Er schien es eher aus reflexhafter Ablehnung von Cantonis Ansichten zu sagen denn
aus Überzeugung.
»Juri, ich weiß, du willst das jetzt nicht hören, aber ich finde immer noch, wir sollten …«
»Halt die Schnauze und pass auf den Arm auf!«
»Irgendwas ist da unten schiefgegangen. Und zwar gründlich. Mission Control wird uns vielleicht nicht mehr helfen können,
und …«
|363| Weiter kam er nicht. Die Erde kippte unter ihm weg, und er driftete von der Hülle fort. Die Station drehte sich um ihre Längsachse.
Es war ein Manöver, mit dem man im Prinzip jederzeit rechnen musste, denn die großen Solarkollektoren mussten ständig so ausgerichtet
werden, dass sie die größtmögliche Energiemenge auffangen konnten. Schon allein deshalb war eine ständige Sicherung durch
die Halteseile unabdingbar. Doch die Ausrichtung der Kollektoren erfolgte normalerweise
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