Das System
Mond war noch nicht zu sehen. Der Himmel schien pechschwarz,
und mindestens eine Million Sterne glitzerten über ihr. Sie konnte deutlich ein blasses Band erkennen, wie |373| eine langgestreckte, dünne Wolke, und begriff, dass dies die Milchstraße sein musste. Noch nie in ihrem Leben hatte sie die
Milchstraße gesehen. Wo kamen nur plötzlich all die vielen Sterne her?
Dann begriff sie, dass ihr der Stromausfall zum ersten Mal einen vom Streulicht ungetrübten Blick auf die Sterne ermöglichte.
Aber das bedeutete, dass in der ganzen Stadt der Strom ausgefallen sein musste. Ganz Tokio ohne Licht, ohne Energie – das
war einfach unvorstellbar.
In der Ferne waren Sirenen zu hören. Kumiko starrte erneut in den Himmel. Sicher würde das Licht bald wieder angehen. Sie
wollte den seltenen Anblick eines vollkommen schwarzen Himmels genießen.
Ein einzelner, sehr heller Stern fiel ihr auf. Nein, es waren zwei, direkt nebeneinander. Sie strahlten heller als alle anderen.
Während Kumiko sie betrachtete, schienen sie noch an Leuchtkraft zu gewinnen – und sich voneinander zu entfernen. Und plötzlich
begriff sie, was sie sah.
Einen Moment starrte sie wie gelähmt auf die Lichter. Endlich löste sie ihren Blick und sah sich um. Die Leute standen in
Grüppchen herum, redeten und gestikulierten. Die Stimmung war eher interessiert und amüsiert als beunruhigt. Ein totaler Stromausfall
war ein außergewöhnliches, in gewisser Hinsicht erschreckendes, aber nicht wirklich bedrohliches Ereignis. Sie sah Isao, nicht
weit entfernt, den Kopf in den Nacken gelegt. Als der Romantiker, der er war, konnte er sich sicher an den Sternen nicht satt
sehen. Lino war nirgends zu sehen.
Kumiko rannte zu ihrem Freund, riss ihn am Arm herum. »Komm!«, brüllte sie. »Wir müssen weg!«
Er starrte sie verständnislos an, ließ sich aber von ihr in Richtung des Eingangs der Karaoke-Bar zerren. »Was ist denn los?«
Kumiko warf einen Blick zu den beiden Sternen, die inzwischen so hell waren, dass die Gesichter der Menschen in |374| ihrem Glanz aufleuchteten. Die meisten Menschen hatten sich zu ihnen umgedreht und sahen sie verwundert an.
»Komm, schnell!«, brüllte Kumiko und zerrte Isao hinter sich her.
Zum Glück stellte er keine weiteren Fragen. Sie erreichten den Eingang der Bar, die in absoluter Dunkelheit dalag. Nur ein
Exit-Schild über dem Eingang warf einen schwachen, grünen Schimmer. Kumiko erkannte die Treppe, die hinunter in den Keller
zu den Toiletten führte. Sie stürmte die Stufen hinab. Von draußen hörte man ein anschwellendes, donnerndes Geräusch wie von
einem gewaltigen Sturm.
»Kumiko«, rief Isao, der ihr nachstolperte. »Bleib doch mal stehen! Was zum …«
Plötzlich wurde es hell. Orangefarbenes Licht glänzte auf den sauberen Fliesen, mit denen die Kellerwände beklebt waren, als
sei draußen mitten in der Nacht die Sonne aufgegangen. Kumiko wandte sich um und sah Isaos Silhouette unmittelbar hinter sich.
Dann kam der Knall. Die Druckwelle der Explosion riss sie beide zu Boden. Der Untergrund zitterte wie bei einem der leichten
Erdbeben, die in Tokio zum Alltag gehörten. Scherben und Steine regneten auf sie herab und ein Schwall kochend heißer Luft
nahm ihnen den Atem. Isao lag auf ihr. Ob er sich absichtlich über sie geworfen hatte, um sie zu beschützen, oder ob er einfach
umgeblasen worden war, wusste sie nicht. Er sagte etwas, aber sie konnte es nicht hören. In ihren Ohren war nur Rauschen.
Er rappelte sich auf und zog sie hoch. Wie betäubt folgte sie ihm die verbliebenen Stufen hinauf, über Schutt und Scherben.
Die Karaoke-Bar existierte nicht mehr. Das Haus, in dem sie sich befunden hatte, war beiseite gefegt worden wie eine Bambushütte
in einem Taifun. Der Eingang zum Keller war nur noch ein schwarzes Loch im schwarzen Boden. Überall lagen brennende Trümmer
herum: Tische, Stühle, Holzbalken, Autos. Dazwischen waren längliche, |375| dunkle Gebilde auszumachen, die von ihrer Größe und Proportion menschliche Körper sein mussten. Ein Stück weiter sah man das
Heck des Flugzeugs. Es stand senkrecht, als habe sich die Maschine so in den Boden gerammt, doch der brennende Rumpf lag ein
Stück weiter die Straße hinunter. Aus der engen Gasse, in der die Bar gelegen hatte, war ein flacher Streifen von der Breite
einer sechsspurigen Autobahn geworden. Die Maschine hatte eine regelrechte Schneise in das Wohngebiet geschlagen.
Stumm starrte Kumiko
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