Das System
nicht unter ihm, sie waren neben ihm.
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92.
Ome-Distrikt/Tokio,
Sonntag 1:30 Uhr
»Love me tender, love me sweet, never let me go!«
Kumiko rollte mit den Augen. Sie hasste Karaoke. Es war ihr entsetzlich peinlich, dass Isao sich vor allen Leuten zum Affen
machte. Dabei musste sie zugeben, dass er eigentlich eine schöne Stimme hatte und eine ganz passable Elvis-Imitation zustande
brachte.
Sie hatte dem Drängen von Isao und ihrer Freundin Lino nachgegeben und war mit den beiden in die Karaoke-Bar gegangen. Es
war ihr wie eine gute Idee erschienen, eine Möglichkeit, diese schlimme Woche zu vergessen und endlich wieder lachen zu können.
Zwar hatten die Techniker die Computerprobleme irgendwann wieder in den Griff gekriegt, aber die Bank hatte in drei Tagen
fast ein Viertel ihrer Kunden verloren. Die Mitarbeiter |371| tuschelten untereinander. Gerüchte machten die Runde, die Bank sei pleite oder werde von ihrem größten Konkurrenten übernommen.
So oder so erschien kein Arbeitsplatz mehr sicher. Kumiko wusste, dass die neuesten und jüngsten Mitarbeiter zuerst gehen
mussten, wenn die große Entlassungswelle kam. Das Lob, das sie erst kürzlich erhalten hatte, bedeutete da nichts.
»You have made my life complete and I love you so«, schmachtete Isao. Er kam auf Kumiko zu. O nein, bitte nicht! Der Scheinwerfer
folgte ihm ebenso wie die Blicke der anderen Besucher der Karaoke-Bar, die um halb zwei immer noch rappelvoll war. Kumiko
spürte, wie sie rot anlief. Zum Glück sah man das in dem schummrigen Licht nicht. Lino lachte glucksend. »Er ist ja so süß«,
rief sie in Kumikos Ohr.
»Love me tender, love me true, all my dreams fulfill.« Isao kniete vor ihrem Tisch nieder. Die Menge johlte und applaudierte.
Kumiko widerstand tapfer der Versuchung, ihm ihr Glas Asahi Super Dry über den Kopf zu schütten, um sein überhitztes Gemüt
zu kühlen. Irgendwie war es ja doch lieb von ihm. Aber musste er so was vor allen Leuten machen?
»For, my darlin’, I love you and I always …«
Ein Jaulen ertönte aus der Karaoke-Anlage, dann helles Rauschen. Und plötzlich hämmerten die Akkorde eines Stones-Songs aus
den Boxen.
Isao sah sich verwirrt um. Die übrigen Gäste glaubten offenbar, dass es sich um eine besonders gelungene Show-Einlage handelte,
und applaudierten. Auf dem Monitor über der Bühne erschien der Songtext: »I can’t get no … satisfaction …«
Tapfer versuchte Isao, den Song mitzusingen, aber er kannte ihn offenbar nicht und traf weder Melodie noch Takt. Es klang
grässlich.
»Cause I try and I try and I try and I try …«
Kumiko konnte nicht anders, sie musste schallend lachen. Sie sah Isaos Stirnrunzeln, die Enttäuschung, die wie mit |372| einem dicken Kalligraphie-Pinsel in sein Gesicht geschrieben war. Das brachte sie nur noch mehr zum Lachen. Sie wusste, dass
es gemein war, dass sie ihn verletzte, aber sie konnte einfach nicht aufhören.
Isao warf ihr einen finsteren Blick zu, dann schleuderte er ihr das Mikrofon vor die Füße und stapfte wütend davon. Die Menge
pfiff ihn aus – es galt als schwach und feige, wenn man einen einmal begonnenen Karaoke-Song nicht zu Ende sang.
Kumiko beruhigte sich wieder. Nun tat ihr Isao leid. Sie stand auf, um ihm nachzulaufen. Die Zuschauer applaudierten – offenbar
glaubten sie, dass Kumiko das Mikrofon aufheben und weitersingen wollte. Sie ignorierte die Rufe, machte einen Schritt über
das Mikrofon hinweg und lief über die Bühne in die Richtung, in die Isao verschwunden war.
In diesem Moment stoppte die Musik, und es wurde dunkel. Nur die Beleuchtung an den Notausgängen der Bar funktionierte noch.
Lautes Gemurmel setzte ein. Vereinzelt klatschten Leute in dem Irrglauben, dass auch dies zur Show gehörte. Das Klatschen
erstarb, das Gemurmel wurde lauter. Die Leute begriffen, dass etwas nicht in Ordnung war. Wie auf Kommando standen sie auf
und verließen die Bar, diszipliniert und ruhig, ohne Panik. Ein Stromausfall war schließlich keine Katastrophe.
Kumiko ließ sich mit der Menge auf die Straße drängen. Draußen war es stockfinster. Die Straßenbeleuchtung war ausgefallen,
kein Fenster erleuchtet. Nur die Scheinwerfer der Autos erhellten die Nacht, aber in der kleinen Seitenstraße, in der die
Bar lag, waren um diese Zeit kaum Autos unterwegs. Im ganzen Viertel musste die Stromversorgung zusammengebrochen sein.
Kumiko warf einen Blick nach oben und riss die Augen auf. Der
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