Das System
Beamtenbeleidigung!«, brüllte der Hauptkommissar. »Dafür kriege ich Sie dran!« Natürlich hatte er nicht ernsthaft
vor, sie zu belangen. Er war wütend auf Dreek, der sich hatte übertölpeln lassen wie der Anfänger, der er war. Aber die größte
Wut hatte er auf sich selbst, weil er Helius wieder mal unterschätzt hatte.
Als er die Treppe herunterkam, stieß er auf einen kleinlauten Kollegen.
»Tut mir leid, Chef. Ich hab mich angestellt wie ein Idiot.«
Das nahm Unger den Wind aus den Segeln. Er hatte brüllen wollen, irgendwas, nur um seine Wut rauszulassen. Aber er wollte
nicht wirklich das Arschloch sein, für das ihn offenbar alle hielten.
»Schon gut. Der Kerl ist gerissener, als wir dachten. Aber er wird nicht weit kommen.«
|77| Doch die Zweifel in seinem Bauch, auf der richtigen Spur zu sein, wurden immer größer. Er öffnete noch einmal die SMS, die
er vorhin bekommen hatte, und zeigte sie Dreek. »Ich möchte, dass Sie die Absender-Nummer überprüfen. Ich dachte, es wäre
Andresen, die uns den Hinweis geschickt hat. Aber danach sieht es ja nicht gerade aus.«
»Aber wer dann, Chef? Und woher wusste er oder sie, dass Helius hier war?«
»Das finden wir schon noch raus. Ich habe das Gefühl, dass wir hier gewaltig verladen werden. Aber auf jeden Fall müssen wir
jetzt erst mal Helius kriegen.«
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19.
Hamburg-Hafencity,
Donnerstag 22:51 Uhr
Es war Ende April, und die meisten Bäume hatten ihr Laub bereits entfaltet, aber jetzt fühlte es sich an wie Februar. Mark
stand im Schatten einer niedrigen Kastanie und beobachtete den Bürokomplex an der Kehrwiederspitze. Immer noch brannte Licht
im elften Stock. Zuerst vermutete er, dass jemand vergessen hatte, das Licht auszumachen. Kein Wunder bei der ganzen Aufregung.
Dann aber sah er einen Schatten, der sich vor dem Fenster des Entwickler-Raums bewegte. Irgendwer war noch da. Ein Entwickler?
Die Polizei? Ein Fremder, der die letzten Spuren beseitigte? Mark traute sich nicht, hinaufzufahren und nachzusehen.
Er stand jetzt schon seit einer Stunde hier in der Kälte und fragte sich, ob er sich nicht langsam einen Platz zum Schlafen
suchen sollte. In diesem Moment ging das Licht im Büro aus.
Mark wartete ein paar Minuten, bis eine Gestalt das Gebäude verließ. Im Licht einer Straßenlaterne erkannte er Rainer Erling.
Erleichtert atmete er aus. Jetzt konnte er ungestört ins Büro.
|78| Er huschte über den leeren Parkplatz, kramte den Schlüssel für die Eingangstür hervor, hielt jedoch inne. Was hatte Rainer
um diese Zeit eigentlich noch in der Firma gemacht?
Der Programmierer war dafür bekannt, bis spät abends zu arbeiten. Er hatte sich mit Ludger auch schon die eine oder andere
Nacht um die Ohren geschlagen, um ein Softwareproblem zu lösen oder ein Update rechtzeitig fertigzubekommen. Dennoch: Jetzt,
wo Ludger tot war, kam es Mark seltsam vor, dass Rainer einfach weiterarbeitete, als sei nichts geschehen.
Ein grässlicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Rainer war auch gestern lange geblieben. Hatte er gemeinsam mit Ludger
nach dem Fehler gesucht? Dann wäre er noch im Büro gewesen, als Ludger starb.
War er der Mörder?
Doch das erschien ihm absurd. Rainer war der letzte Mensch, dem Mark einen Mord zutraute. Sein Asperger-Syndrom machte ihn
zu einem stillen, zurückgezogenen jungen Mann, der im Umgang mit anderen Menschen manchmal abwesend, fast unfreundlich wirkte
– aber niemals feindselig oder aggressiv. Dass er kaltblütig einen Mord planen und ausführen würde, war unvorstellbar.
Nein, Rainers späte Anwesenheit im Büro hatte sicher einen ganz anderen Grund. Ludger hatte sich immer besonders um Rainer
gekümmert. Vielleicht war er sogar aus demselben Grund hier wie Mark: Vielleicht wollte er in seiner stillen, konzentrierten
Art herausfinden, was wirklich geschehen war. Wenn es so war, dann hatte Mark einen Verbündeten.
Er holte ihn auf halbem Weg zur U-Bahn-Station am Baumwall ein. »Rainer! Rainer, warte mal!«
Rainer erstarrte, wandte sich mit aufgerissenen Augen um, als sei Mark ein Zombie, der sich auf ihn stürzte.
»Hast du was rausgefunden?«, fragte Mark. »Bist du dahintergekommen, was mit DINA nicht stimmt? Ich habe |79| den Verdacht, dass irgendeine fremde Macht DINA für ihre Zwecke missbraucht. Ein Geheimdienst vielleicht, die Mafia, Terroristen,
was weiß ich. Vielleicht musste Ludger deshalb sterben!«
Rainers Augen waren immer noch weit
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