Das System
aufgerissen, als habe er Angst vor Mark. »Die Polizei … sie suchen dich überall …«, sagte
er.
»Ja, ich weiß. Deshalb brauche ich deine Hilfe, Rainer. Irgendwer will mir die Sache in die Schuhe schieben. Ich muss den
wahren Mörder finden.« Er hielt inne. »Du … du glaubst mir doch, oder?«
Rainer sah ihn nur stumm an. Er war kreidebleich.
Ein kalter Schauer lief über Marks Rücken. War es wirklich so leicht, ihn des Mordes an seinem Freund zu verdächtigen?
»Ich war es nicht. Rainer, du musst mir glauben!«
Rainer sagte nichts. Er wandte sich um.
Mark griff nach seinem Arm. »Rainer, bitte! Ich muss wissen, was mit DINA los ist!«
Rainer beschleunigte seine Schritte. Mark lief hinter ihm her, hielt ihn erneut fest. Rainer riss sich los. Er schrie laut,
wie ein verängstigtes Kind.
Sie waren jetzt fast an der U-Bahn-Station. Ein älterer Mann auf der anderen Straßenseite sah zu ihnen herüber. Der Mann holte
sein Handy hervor.
Mark blieb stehen und sah Rainer nach. Er rannte über die rote Fußgängerampel und die Treppe hinauf zur U-Bahn, die hier am
Hafenrand nicht unterirdisch, sondern über der Straße auf Säulen verlief. Der alte Mann telefonierte und behielt Mark dabei
im Auge. Besser, er verschwand, ehe die Polizei eintraf.
Er lief durch die dunklen Straßen der Speicherstadt. Nach einer Weile zuckten hinter ihm die blauen Blitze eines Einsatzwagens,
der vor dem Hanseatic Trade Center hielt. Mark drängte sich in den Eingang eines alten Speichers. Der Geruch von Kaffee und
Gewürzen drang daraus hervor. Er |80| dachte an die großen Frachter, die oft vor seinem Fenster die Elbe hinunterfuhren, fernen, exotischen Ländern entgegen. Er
musste weg aus Hamburg, für eine Weile jedenfalls.
Einen Moment lang überlegte er, ob er versuchen sollte, sich als blinder Passagier an Bord eines Schiffes zu schmuggeln. Doch
wenn die Mannschaft ihn auf hoher See entdeckte, würden sie ihn mit Sicherheit der Polizei ausliefern. Außerdem konnte er
als Flüchtling im Ausland nichts tun, um Ludgers Mörder auf die Spur zu kommen.
Er dachte darüber nach, welche Menschen er kannte, die ihm so weit vertrauten, dass sie ihn vor der Polizei verstecken würden.
Seine Eltern hatten sich getrennt, als er vierzehn war, und seitdem hatte er praktisch keinen Kontakt mehr zu seinem Vater
gehabt. Seine Mutter war vor ein paar Jahren in die USA gezogen. Geschwister hatte er nicht.
Die einzige Person, die ihm einfiel, war seine Cousine Franzie. Sie wohnte in Münster, studierte Philosophie im zwanzigsten
Semester oder so und lebte von Gelegenheitsjobs und davon, hin und wieder eines ihrer ziemlich düsteren Ölgemälde zu verkaufen.
Mark hatte sie immer gemocht, wegen ihres ungestümen Temperaments und ihrer Fröhlichkeit, die von einer Sekunde zur anderen
in tiefe Verzweiflung umschlagen konnte, jedoch nie langfristig. Franzie hielt nicht viel von Obrigkeiten und war immer für
eine gute Verschwörungstheorie zu haben. Sie würde ihm glauben und helfen. Es würde ihr wahrscheinlich sogar Spaß machen.
Er überlegte, ob er sie jetzt gleich anrufen sollte. Er wusste, dass sie oft bis spät in die Nacht hinein malte. Aber dann
entschied er sich dagegen. Er wusste ja noch nicht einmal, wie er zu ihr kommen sollte. Der Hauptbahnhof wurde sicher überwacht,
besonders jetzt, wo sie wussten, dass er noch in der Stadt war. An den Flughafen mit seinen umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen
war erst recht nicht zu denken. Ein Taxi schied auch aus, sicher waren alle Taxifahrer gewarnt. U-Bahnen und Busse waren die
einzigen Verkehrsmittel, die |81| die Polizei nicht vollständig überwachen konnte. Aber die würden ihn nicht aus Hamburg herausbringen. Oder doch?
Mark überquerte eine der Brücken, die die Speicherstadt mit der Innenstadt verbanden, und dankte dem Schicksal, dass die Polizei
nicht den gesamten Bereich abgeriegelt hatte. Wahrscheinlich hatte er das der allgemeinen Geld- und Personalknappheit zu verdanken.
Und immerhin war er bis jetzt nur ein Mordverdächtiger.
Er stieg am Rödingsmarkt in die U-Bahn in Richtung Altona, wechselte ein paar Mal die Linie und erreichte mit dem letzten
Zug vor der Nachtpause den Bahnhof in Harburg. Er traute sich nicht, die Nachtstunden in der Wartehalle zu verbringen, und
spazierte deshalb durch die stillen Straßen des alten Arbeiterviertels südlich der Elbe.
Um halb sechs kaufte er sich am Bahnhofskiosk einen Kaffee und die
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